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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marguerite Yourcenar
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willkürliche und verfälschte Ergänzung, das gilt natürlich auch für alle anderen Gespräche, an die ich mich hier zu erinnern versuche. Wenn ich mich der dürftigen Plattheiten, die wir uns in jener Nacht zuflüsterten, fast lückenlos entsinne, so sicherlich nur deshalb, weil Sophie mir damals zum letzten Mal in ihrem Leben Zärtlichkeiten sagte. Ich mußte darauf verzichten, den Türschlüssel geräuschlos umzudrehen. Wir glauben zu zögern oder uns zu entschließen; in Wirklichkeit aber sind es zufällige Nebensächlichkeiten, die unsere Entschlüsse bestimmen und unsere geheimen Erwägungen prägen. Meine Feigheit, oder soll ich sagen mein Mut, gingen nicht soweit, daß ich Konrad eine Erklärung gab. Er war naiv genug, in meinem Verhalten am Weihnachtsabend nur Empörung über gewisse Vertraulichkeiten zu sehen, die der erste beste sich mit seiner Schwester herausgenommen hatte. Noch heute weiß ich nicht, ob ich mich jemals überwunden hätte, ihm zu gestehen, daß ich ihn seit vier Monaten jeden Tag durch mein Schweigen belog. Mein Freund drehte sich um und stöhnte im Schlaf, weil sein krankes Bein ihn schmerzte. Ich ging zu meinem Bett zurück, streckte mich aus, die Hände unterm Nacken, und versuchte, nur noch an das morgige Unternehmen zu denken. Hätte ich Sophie in jener Nacht besessen, so hätte ich diese Frau, die ich noch vor kurzem in aller Öffentlichkeit als mein ausschließliches Eigentum gekennzeichnet hatte, vermutlich mit wahrer Gier genossen, Sophie wäre endlich glücklich und jenen Einflüssen zweifellos unzugänglich gewesen, die uns sehr bald für immer voneinander trennen sollten. Der Anlaß zum Bruch zwischen uns wäre also notwendig von mir ausgegangen. Nach ein paar Wochen der Enttäuschung oder der Verzückung wäre ich meinem ebenso hoffnungslosen wie unentbehrlichen Laster wieder zum Opfer gefallen; und dieses Laster, wie immer man darüber auch denken mag, ist weit weniger die Liebe zu jungen Männern als die Einsamkeit. Frauen können in ihr nicht leben und zerstören sie unweigerlich, wäre es auch nur durch ihre Bemühungen, sie in einen Garten zu verwandeln. Die Seite meines Wesens, die mich aufs unerbittlichste in meinem Kern bestimmt, hätte aufs neue die Oberhand gewonnen, und ich würde Sophie wohl oder übel wieder verlassen haben, wie ein Staatsoberhaupt eine Provinz aufgibt, die zu weit von der Hauptstadt entfernt ist. Sophie wäre unweigerlich aufs neue Volkmar verfallen oder gar, wenn er versagt hätte, der Straße. Es gibt anständigere Dinge als solch einen ständigen Wechsel zwischen Selbstpeinigung und Lüge, die peinlich an das Idyll des Handlungsreisenden mit dem Dienstmädchen erinnern. Heute finde ich, daß das Unglück die Dinge damals gar nicht so schlecht geregelt hat. Es bleibt deshalb doch wahr, daß ich vermutlich eine einmalige Chance versäumt habe. Es gibt aber auch Chancen, gegen die unser Instinkt sich trotz aller besseren Einsicht sträubt.
    Gegen sieben Uhr morgens ging ich in die Küche hinunter, wo Volkmar bereits abmarschfertig auf mich wartete. Sophie hatte Kaffee aufgewärmt und aus den Resten des weihnachtlichen Festmahls ein Eßpaket für uns vorbereitet. Sie war eine richtige Soldatenfrau, die an alles dachte. Im Hof, ungefähr an der gleichen Stelle, wo ich an einem Novemberabend Texas begraben hatte, nahmen wir Abschied voneinander. Wir waren keinen Augenblick allein. Obschon ich entschlossen war, mich gleich nach meiner Rückkehr endgültig zu binden, war es mir doch keineswegs unangenehm, zwischen meine Erklärung und mich eine Wartezeit zu legen, die vielleicht bis zu meinem Tod dauern konnte. Wir hatten anscheinend alle drei den gestrigen Zwischenfall vergessen. Diese rasche und wenigstens scheinbare Vernarbung war bezeichnend für unser Leben, dessen tägliche Wunden der Krieg gleich wieder ausbrannte. Volkmar und ich küßten die Hand, die sich uns entgegenstreckte und uns noch lange zuwinkte, was jeder von uns auf sich bezog. Unsere Leute warteten, um ein Holzfeuer hockend, bei den Baracken auf uns. Es schneite, was das Marschieren erschwerte, uns aber vielleicht vor Überfällen schützte. Die Brücken waren gesprengt, aber der Fluß war fest zugefroren. Wir wollten Munau erreichen, um Brussaroff, der eingekesselt war und sich in einer weit gefährlicheren Lage befand als wir, bei einem etwaigen Rückzug auf unsere Stellungen zu decken.
    Die telephonischen Verbindungen zwischen uns und Munau waren seit ein paar Tagen

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