Der Fangschuss
gesetzt, die noch aus jener Zeit stammte, als der ganze See mit zum Schloßpark gehörte. Sophie hatte sich nach Chopins Frau erkundigt, die gerade in einer Warschauer Klinik von einem Kinde entbunden worden war. Beim Abschied hatte sie ihn gebeten, über ihre Begegnung Schweigen zu bewahren. »Vor allem kein Gerede, mein Guter. Erich hat mich fortgeschickt, verstanden?«
Chopin war daran gewöhnt, daß Sophie gefährliche Botengänge für mich machte, was er schweigend mißbilligte. Am nächsten Tag aber fragte er mich, ob ich das junge Mädchen nach Marba geschickt hätte. Ich zuckte mit den Schultern. Chopin war beunruhigt und wollte Näheres wissen. Mir blieb nichts weiter übrig, als zu lügen, daß ich Sophie seit meiner Rückkehr noch nicht wiedergesehen hätte. Es wäre vorsichtiger gewesen, zuzugeben, daß wir uns kurz auf der Treppe begegnet waren; aber man lügt fast immer nur für sich selber und um zu versuchen, eine Erinnerung zu verdrängen. Am nächsten Tag erzählten ein paar neu angekommene russische Flüchtlinge, daß sie unterwegs einer jungen Bäuerin in einer Pelzjacke begegnet seien und sich mit ihr während eines kurzen Schneesturms unter das Schutzdach einer Wildhütte geflüchtet hätten. Sie hätten mit ihr ein paar Begrüßungsworte und Scherze gewechselt, obwohl sie ihren Dialekt kaum verstanden hätten; auch habe sie ihnen ein Stück von ihrem Brot gegeben. Die Fragen, die einer von ihnen dann auf deutsch an sie richtete, hatte sie mit einem Kopfschütteln beantwortet, als verstehe sie nur den Dialekt der Gegend. Auf Chopins Vorschlag hin ließ Konrad in der Umgebung Streifen veranstalten, aber ohne Ergebnis. Alle Gehöfte waren verlassen und leer, und die einsamen Fußspuren im Schnee konnten ebensogut von einem Vagabunden oder Soldaten herrühren. Am Tag darauf war das Wetter so schlecht, daß selbst Chopin alles weitere Suchen aufgab; überdies zwang ein neuer Angriff der Roten uns, an andere Dinge als an Sophies Verschwinden zu denken.
Konrad hatte mich nicht zum Hüter seiner Schwester bestellt; und schließlich hatte ich Sophie nicht mit Gewalt auf die Straße geschickt. Trotzdem verfolgte mich das Bild des durch Schnee und Schlamm watenden jungen Mädchens in jenen langen schlaflosen Nächten wie ein hartnäckiges Gespenst. Tatsächlich hat die tote Sophie mich später nie so verfolgt wie damals die verschwundene Sophie. Als ich über die näheren Umstände ihres Weggehens nachdachte, traf ich auf eine Spur, die ich für mich behielt. Seit langem vermutete ich, daß die Beziehungen zwischen Sophie und dem Buchhandlungsgehilfen Grigori Loew nicht völlig unterbrochen waren. Nun führte der Weg nach Marba ebenfalls nach Lilienkron, wo die Mutter Loew das doppelte und einträgliche Geschäft einer Hebamme und einer Schneiderin betrieb. Ihr Mann, Jakob Loew, hatte das fast ebenso anerkannte und obendrein noch einträgliche Geschäft des Wucherns betrieben – lange Zeit ohne Wissen seines Sohnes (was ich gern glauben will) und später zu dessen größtem Abscheu. Bei gelegentlichen Repressalien der antibolschewistischen Truppen war der Vater Loew auf der Schwelle seines Kramladens niedergeschlagen worden und spielte seitdem in der kleinen jüdischen Gemeinde von Lilienkron die interessante Rolle eines Märtyrers. Hingegen war es bisher der Mutter Loew gelungen, sich im Lande zu halten, obwohl sie in jeder erdenklichen Hinsicht und vor allem, weil ihr Sohn einen Posten in der bolschewistischen Armee hatte, verdächtig war. So viel Geschick oder auch Niedertracht nahmen mich nicht gerade günstig für sie ein.
Der Kronleuchter aus Porzellan und der mit scharlachrotem Rips bespannte Salon der Familie Loew waren außer Kratovice das einzige Milieu, das Sophie kennengelernt hatte. Es war also zu vermuten, daß sie sich dorthin begeben hatte, als sie uns verließ. Es war mir bekannt, daß sie nach jener Vergewaltigung, die ihr erstes Unglück war, in der Befürchtung, sich angesteckt zu haben oder schwanger zu sein, die Mutter Loew um Rat gefragt hatte. Bei ihrem Charakter war die Tatsache, sich ein erstes Mal jener Matrone anvertraut zu haben, ein genügender Grund, sie immer wieder ins Vertrauen zu ziehen. Übrigens trug das verfettete Gesicht der alten Frau – und ich muß meinen Scharfblick loben, da ich es gleich beim erstenmal und gegen meine eingewurzeltsten Vorurteile bemerkte – den Ausdruck einer derben Güte. Wegen des Kasernenlebens, das Sophie bei uns führen mußte, blieb
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