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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marguerite Yourcenar
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Sophie für Konrad nur noch die Spionin, deren Anwesenheit unsere Fehlschläge und sogar mein kürzliches Pech in Gurna zur Genüge erklärte.
    Ich hingegen war von Sophies Lauterkeit genauso fest überzeugt wie von ihrem Mut, und Konrads törichte Beschuldigungen brachten einen Mißton in unsere Freundschaft. Ich habe bei denen, die so leicht an die Unwürdigkeit von anderen glauben, stets irgendeinen niedrigen Zug gefunden. Ich achtete Konrad deshalb weniger, bis zu jenem Tage, an dem ich begriff, daß er aus Sophie eine Art Mata Hari für einen Film oder einen Kitschroman zu machen suchte, um auf diese naive Weise seine Schwester zu ehren und jenem Gesicht mit den großen, leicht wahnsinnigen Augen jene hinreißende Schönheit zu verleihen, die das junge Mädchen schon hatte, für die er als Bruder bisher aber blind gewesen war. Schlimmer war aber, daß der fassungslos empörte Chopin sich ohne Widerrede mit Konrads romanhaften und kitschigen Erklärungen zufrieden gab. Chopin hatte Sophie leidenschaftlich verehrt. Seine Enttäuschung war so groß, daß ihm nichts übrig blieb, als sein früheres Idol, das zum Feinde übergelaufen war, zu bespeien. Von uns dreien war ich sicherlich nicht der lauterste; und doch war ich der einzige, der Vertrauen zu Sophie hatte und der schon jetzt jenen Freispruch für sie bereit hielt, den sie mit vollem Recht im Augenblick ihres Todes selber für sich beanspruchen durfte. Die lauteren Herzen nehmen nämlich eine ganze Reihe von Vorurteilen für sich in Anspruch, deren Fehlen bei den zynischen Gemütern vielleicht die ausbleibenden Skrupel ausgleicht. Es ist allerdings wahr, daß ich als einziger durch jenes Ereignis mehr gewann als verlor; und daß ich mir nicht versagen konnte, wie so oft in meinem Leben, mit jenem Unglück heimliche Blicke des Einverständnisses zu wechseln. Man behauptet, das Schicksal verstehe sich vorzüglich darauf, die Schlinge um den Hals seines Opfers nach und nach immer enger zu ziehen; nach meiner Ansicht aber versteht es noch viel besser, Bindungen zu zerreißen. Auf die Dauer hilft es uns – mit oder ohne unseren Willen – aus der Verlegenheit, indem es uns von allen Bindungen befreit.
    Von jenem Tage an war Sophie für uns so endgültig begraben, als hätte ich ihren von einer Kugel durchbohrten Leichnam von Lilienkron mit nach Hause gebracht. Die Leere, die durch ihr Fortgehen entstand, war weit größer als der Platz, den sie scheinbar unter uns eingenommen hatte. Seit Sophie verschwunden war, herrschte in dem frauenlosen Hause (denn Tante Praskovia war bestenfalls ein Phantom) die Grabesstille eines Klosters. Unsere immer weiter zusammenschmelzende Gruppe lebte ganz in der alten Tradition der Strenge und Tapferkeit. Kratovice wurde wiederum, was es in früheren Zeiten gewesen war: ein Vorposten des Deutschen Ritterordens und eine vorgeschobene Burg seiner Schwertbrüder. Wenn ich trotz allem an Kratovice unter dem Vorzeichen eines gewissen Glücks zurückdenke, so darum, weil mir jene Zeit genauso unvergeßlich geblieben ist wie meine Kindheit. Europa verriet uns; Lloyd Georges Regierung begünstigte die Sowjets; von Wirtz überließ das russischbaltische Chaos endgültig sich selber und ging nach Deutschland zurück; die Unterhandlungen von Dorpat hatten seit langem unserem Zentrum verbohrten und unnützen Widerstandes jede Berechtigung und beinahe jeden Sinn genommen; auf der anderen Seite des russischen Kontinents trat Wrangel an Denikins Stelle und unterzeichnete bald die jämmerliche Erklärung von Sebastopol und damit zugleich sein Todesurteil; und die beiden siegreichen Offensiven im Mai und August an der polnischen Front hatten noch nicht jene Hoffnungen erweckt, die sofort darauf durch den Waffenstillstand im September und die anschließende Niederwerfung der Krim wieder vernichtet wurden … Aber diese wie alle geschichtlichen Berichte nachträglich konstruierte Zusammenfassung kann nichts an der Tatsache ändern, daß ich in jenen Wochen so sorglos dahinlebte, als sollte ich ewig leben oder schon am nächsten Tage sterben. Die Gefahr legt im Menschen die schlimmsten und auch die besten Seiten seines Wesens frei. Da die schlechten Seiten im allgemeinen überwiegen, so ist die Atmosphäre des Krieges alles in allem die widerwärtigste, die es gibt. Aber das macht mich nicht ungerecht gegenüber den seltenen großen Augenblicken, die sie auch bieten kann. Wenn die Atmosphäre in Kratovice alle Mikroben der Niedrigkeit tötete, dann lag

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