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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marguerite Yourcenar
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veraltet.«
    Das war klar und richtig; und die dicke Frau, die gegen ihren Willen alle Anzeichen körperlicher Angst aufwies, war innerlich nicht ohne Mut. Ihre Hände, die sie über dem Bauch gefaltet hielt, zitterten krampfhaft, und nicht einmal Bajonette hätten ihr das Geheimnis entrissen; sie war standhaft wie die Mutter der Makkabäer. Ich war bereits entschlossen, dieser Kreatur das Leben zu schenken, die im Grunde nichts weiter getan hatte, als in das dunkle Spiel einzutreten, das Sophie und ich gegeneinander spielten. Es nützte aber nicht, denn die alte Jüdin wurde einige Wochen später von ein paar Soldaten umgebracht. Was mich selber betraf, so hätte ich dieses unglückliche Geschöpf ebensogut wie eine Raupe zertreten können. Ich wäre weniger nachsichtig gewesen, wenn ich Grigori oder Volkmar vor mir gehabt hätte.
      »Fräulein von Reval hatte Ihnen doch sicher schon seit langem ihre Pläne anvertraut?«
      »Nein. Es war letzten Herbst davon die Rede gewesen«, sagte sie und warf mir einen raschen, ängstlichen Blick zu, um festzustellen, wieweit ihr Gesprächspartner im Bilde war. »Seitdem hat sie mir nichts mehr davon erzählt.«
      »Gut«, sagte ich, stand auf und schob zugleich die verkohlten Briefe von Grigori in eine meiner Manteltaschen.
      Ich wollte möglichst rasch dies Zimmer verlassen, wo Sophies über eine Sofalehne geworfene Pelzjacke mich so traurig machte, als hätte ich einen herrenlosen Hund vor mir gehabt. Ich werde bis zu meinem Tode davon überzeugt bleiben, daß die Alte sich die Jacke für ihre Gefälligkeiten hatte geben lassen.
      »Sie wissen doch, welche Gefahr es für Sie bedeutet, daß Sie Fräulein von Reval behilflich waren, ins Lager des Feindes zu gelangen?«
      »Mein Sohn hat mir gesagt, ich solle mich der jungen Komtesse zur Verfügung stellen«, antwortete mir die Hebamme, die sich um die neuen Anredeformen herzlich wenig zu kümmern schien. »Wenn es ihr geglückt ist«, fügte sie fast ungewollt und nicht ohne einen gewissen Stolz hinzu, »so werden mein Grigori und sie wohl geheiratet haben. Das vereinfacht auch die Dinge.«
    In dem Lastwagen, der uns nach Kratovice zurückbrachte, mußte ich plötzlich laut lachen über die liebevolle Besorgnis, mit der ich mich um die junge Frau Loew gekümmert hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach lag Sophies Körper in diesem Augenblick in irgendeinem Graben oder hinter einer Hecke, mit angezogenen Knien, die Haare von Erde beschmutzt, wie der Kadaver eines Rebhuhns oder eines von einem Wilderer angeschossenen Fasans. Natürlich hätte ich dieser Möglichkeit vor allen anderen den Vorzug gegeben.
    Ich verbarg vor Konrad nichts von dem, was ich in Lilienkron erfahren hatte. Zweifellos hatte ich damals das Bedürfnis, meine Bitterkeit mit jemand anderem gemeinsam auszukosten. Es war klar, daß Sophie auf Grund einer plötzlichen Eingebung gehandelt hatte, die eine verlassene Frau oder ein verführtes Mädchen, auch wenn beide keinen besonderen Hang zu übertriebenen Entschlüssen haben, veranlassen kann, in ein Kloster oder ein Bordell zu gehen. Nur Loew verdarb mir ein wenig diese Auslegung von Sophies Fortgang; immerhin hatte ich damals schon genug Erfahrung, um zu wissen, daß niemand sich die Komparsen seines Lebens selber wählt. Ich allein hatte Sophie daran gehindert, den revolutionären Keim in sich zu entwickeln. Nachdem sie sich einmal ihre Liebe aus dem Herzen gerissen hatte, konnte sie sich nur noch rückhaltlos für den Weg entscheiden, der ihr durch die Lektüre ihrer Jugend und durch die aufregende Kameradschaft mit dem kleinen Grigori vorgezeichnet war – und auch durch jenen Abscheu, mit dem enttäuschte Seelen die Umwelt zu bedenken pflegen, in der sie groß geworden sind. Aber Konrad hatte die nervöse Schwäche, Tatsachen niemals, so wie sie waren, hinzunehmen, ohne sie stets um zweifelhafte Auslegungen oder Vermutungen zu bereichern. Ich war von dem gleichen Laster angesteckt; aber meine Vermutungen blieben eben Vermutungen und entarteten nie zu Mythen oder zu romanhaften Vorstellungen vom Leben. Je länger Konrad über dies heimliche Verschwinden ohne einen Brief und ohne einen Abschiedskuß nachsann, desto mehr argwöhnte er Beweggründe, die man besser im dunkeln ließ. In jenem langen Winter in Kratovice waren Bruder und Schwester einander so völlig fremd geworden, wie es in diesem Maße nur zwei Mitglieder derselben Familie fertigbringen. Seit meiner Rückkehr von Lilienkron war

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