Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
gebracht. Sie wurde langsam paranoid.
Gruselig…
Vergiss es.
Amelia nahm die Papiertüte mit den nach Knoblauch duftenden kubanischen Speisen auf den anderen Arm und ging mit Kara weiter den bevölkerten Bürgersteig entlang. Sie plauderten über Eltern, über Karrieren, über den Cirque Fantastique. Auch über Männer.
Peng, peng…
Kara nippte an ihrem doppelten kubanischen Kaffee. Schon beim ersten Schluck sei sie dem Gebräu verfallen, behauptete sie. Es koste nicht nur halb so viel wie bei Starbucks, sondern sei zudem doppelt so kräftig. »Kopfrechnen ist nicht meine Stärke, aber demnach müsste dieser Kaffee viermal so gut sein«, sagte die junge Frau. »Ich liebe solche Überraschungen. Es kommt auf die kleinen Dinge im Leben an, finden Sie nicht auch?«
Aber Sachs hörte ihr nicht mehr zu. Ein Krankenwagen raste an ihnen vorbei. Sie hoffte inständig, er möge einfach weiterfahren.
Doch das tat er nicht. Mit quietschenden Reifen kam er an der Ecke neben Rhymes Haus zum Stehen.
»Nein«, flüsterte sie.
»Was ist denn da los?«, fragte Kara. »Ein Unfall?«
Sachs’ Herz raste wie wild. Sie ließ die Tüte fallen und lief los.
»O Lincoln…«
Kara folgte ihr, schüttete sich dabei heißen Kaffee über die Finger und warf den Becher weg. Sie holte Amelia ein. »Was ist los?«
Als sie um die Ecke bogen, sahen sie ein halbes Dutzend Feuerwehrwagen und Ambulanzen.
Sachs hatte zunächst vermutet, er habe eine Dysregulation erlitten, doch wozu dann die Löschfahrzeuge? Sie schaute zum ersten Stock und keuchte erschrocken auf. Aus Rhymes Schlafzimmerfenster drang Rauch.
O Gott, nein!
Sachs duckte sich unter der Absperrung hindurch und rannte auf die Löschmannschaft zu, die im Eingang stand. Als sie die Vordertreppe hochsprang, dachte sie nicht mehr an ihre Arthritis. Dann war sie im Haus und rutschte beinahe auf den Marmorfliesen aus. Flur und Arbeitszimmer wirkten unversehrt, aber es hing ein dünner Rauchschleier in der Luft.
Zwei Feuerwehrleute kamen langsam die Stufen aus der oberen Etage herunter und sahen dabei zutiefst bekümmert aus.
»Lincoln!«, schrie sie.
Und wollte zur Treppe laufen.
»Nein, Amelia!«, hallte Lon Sellittos barsche Stimme durch den Korridor.
Sie drehte sich voller Panik um. Der Lieutenant wollte wohl verhindern, dass sie die verkohlte Leiche zu Gesicht bekam. Falls der Hexer für Lincolns Tod verantwortlich war, würde sie ihn umbringen. Nichts auf der Welt könnte sie davon abhalten.
»Lon!«
Er winkte sie zu sich und umarmte sie. »Er ist nicht da oben, Amelia.«
»Ist…«
»Nein, nein, keine Sorge. Es ist alles in Ordnung. Thom hat ihn nach hinten ins Gästezimmer gebracht. Hier unten.«
»Gott sei Dank«, sagte Kara. Sie sah bestürzt, dass immer mehr Feuerwehrleute die Treppe herunterkamen, kräftige Männer und Frauen, die mit ihrer Schutzbekleidung und der Ausrüstung sogar noch robuster wirkten.
Thom gesellte sich mit grimmigem Gesicht zu ihnen. »Es geht ihm gut, Amelia. Er hat keine Verbrennungen erlitten, sondern nur ein wenig Rauch eingeatmet. Sein Blutdruck ist hoch, aber ich habe ihm seine Medikamente gegeben. Kein Grund zur Besorgnis.«
»Was ist passiert?«, fragte sie den Detective.
»Der Hexer«, murmelte Sellitto und seufzte. »Er hat Larry Burke ermordet und ihm die Uniform gestohlen. Auf diese Weise ist er ins Haus gekommen und hat sich irgendwie in Rhymes Schlafzimmer geschlichen. Dann hat er rund um sein Bett Feuer gelegt. Wir hier unten haben nichts davon bemerkt. Jemand auf der Straße hat den Qualm gesehen und den Notruf gewählt. Die Zentrale hat dann unverzüglich bei mir angerufen. Thom, Mel und ich haben den Großteil der Sachen retten können, bevor die Feuerwehr eintraf.«
»Gehe ich recht in der Annahme, dass wir den Hexer nicht erwischt haben?«, fragte Sachs.
Er lachte verbittert auf. »Na, was glauben Sie wohl? Er ist spurlos verschwunden. Hat sich in Luft aufgelöst.«
Nach dem Unfall, der ihm die Lähmung eingebracht hatte, war Rhyme anfangs in eine Phase tiefen Kummers verfallen und hatte monatelang versucht, seine Beine durch pure Willenskraft zum erneuten Funktionieren zu zwingen. Irgendwann jedoch fügte er sich in das Unvermeidliche und richtete seine Anstrengungen und sein beachtliches Konzentrationsvermögen auf ein vernünftigeres Ziel aus.
Ohne fremde Hilfe atmen zu können.
Ein C4-Querschnittsgelähmter wie Rhyme – also ein Patient mit gebrochenem vierten Halswirbel – war in vielen Fällen auf eine
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