Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
verstummten.
»Daher möchte ich Sie nun ersuchen, Ihre Tickets bei sich zu behalten und hinaus in den Central Park zu gehen.«
Es wurde Stimmengewirr laut. Die Leute wunderten sich, was für ein Auftritt das wohl sein mochte.
Er lächelte. »Suchen Sie sich in der Nähe eine hübsche Stelle. Wenn Sie die Gebäude am Südrand des Parks sehen können, werden Sie garantiert nichts versäumen.«
Die Leute lachten gespannt. Was meinte er denn nur? Würden irgendwelche Draufgänger einen Drahtseilakt zwischen den Wolkenkratzern wagen?
»So, die unteren Reihen zuerst, schön geordnet. Benutzen Sie bitte den nächstbesten Ausgang.«
Das Licht ging an. Er entdeckte Katherine Tunney, die lächelnd am Durchgang stand und die Leute hinauswinkte. Bitte, geh raus, dachte er. Verschwinde von dort!
Die Zuschauer unterhielten sich angeregt – er konnte sie wegen der blendend hellen Scheinwerfer nur undeutlich erkennen. Sie sahen einander an und fragten sich, wer nun zuerst aufstehen und welchen Weg er einschlagen sollte. Dann riefen sie allmählich ihre Kinder zu sich, nahmen ihre Handtaschen und Popcorntüten und schauten nach den Eintrittskarten.
Kadesky lächelte, als er sah, wie die Leute sich erhoben und langsam die Ausgänge und damit die Sicherheit ansteuerten. Doch er dachte etwas anderes:
Chicago, Illinois, Dezember 1903. Bei einer Aufführung von Eddie Foys berühmtem Varietéprogramm im Iroquois Theater brach durch einen defekten Scheinwerfer ein Feuer aus, das schnell von der Bühne auf die Sitzreihen übersprang. Die zweitausend Zuschauer rannten zu den Ausgängen und verstopften sie dermaßen gründlich, dass die Feuerwehr nicht hineingelangen konnte. Mehr als sechshundert Menschen kamen auf grauenhafte Weise ums Leben.
Hartford, Connecticut, Juli 1944. Ebenfalls eine Nachmittagsvorstellung. Gerade als die namhafte Familie Wallenda im Ringling Brothers and Barnum & Bailey Circus mit ihrer beliebten Hochseilnummer anfangen wollte, kam es im südöstlichen Bereich des Zeltes zu einem kleinen Brand, der innerhalb kürzester Zeit die gesamte Zeltleinwand verschlang, weil diese mit Benzin und Paraffin imprägniert worden war. Nach nur wenigen Minuten gab es mehr als hundertfünfzig Opfer zu beklagen. Sie waren verbrannt, erstickt oder zu Tode getrampelt worden.
Chicago, Hartford und noch viele andere Städte. Im Laufe der Jahre hatten sich bei Theater- und Zirkusbränden Tausende von schrecklichen Todesfällen ereignet. Würde das auch hier passieren? Würde man den Cirque Fantastique,
seine
Show, so in Erinnerung behalten?
Bislang verlief die Evakuierung reibungslos, doch der Preis für die Vermeidung einer Panik war zwangsläufig das langsame Tempo. Es befanden sich immer noch viele Leute im Zelt. Und wie es schien, blieben einige von ihnen lieber sitzen, als sich das Spektakel im Park anzuschauen. Sobald die meisten Zuschauer draußen waren, würde er den anderen reinen Wein einschenken müssen.
Wann mochte die Bombe hochgehen? Vermutlich nicht jetzt gleich. Weir würde die Nachzügler einkalkulieren und ihnen Zeit geben wollen, ihre Plätze einzunehmen – damit es möglichst viele Opfer gab. Es war nun vierzehn Uhr zehn. Vielleicht hatte er den Zünder auf die volle Viertel- oder halbe Stunde eingestellt.
Und wo war sie versteckt?
Kadesky hatte keine Ahnung, wo jemand eine Bombe platzieren würde, um den größten Schaden anzurichten.
Er sah zum Haupteingang, wo sich eine Menschentraube gebildet hatte, und entdeckte Katherines Silhouette – die Frau winkte ihn zu sich, um ihn zur Flucht aufzufordern.
Doch er blieb. Er würde alles tun, um das Zelt zu evakuieren, selbst wenn das bedeutete, dass er die Leute an der Hand nehmen, zum Ausgang führen, notfalls hinausschubsen und dann umkehren und die nächsten Zuschauer holen musste – auch falls alles schon lichterloh brannte. Er würde die letzte Person sein, die den Zirkus verließ.
Lächelnd sah er Katherine an, schüttelte kurz den Kopf, hob dann das Mikrofon und versicherte dem Publikum erneut, dass draußen eine wunderbare Nummer aufgeführt werde. Plötzlich unterbrach ihn laute Musik. Er schaute zum Podium des Orchesters. Die Musiker waren Kadeskys Anweisung gefolgt und hatten ihre Plätze verlassen, aber der Kapellmeister stand noch bei dem Schaltpult, von dem aus die Musikanlage bedient wurde. Ihre Blicke trafen sich, und Kadesky nickte zustimmend. Der Mann, ein Zirkusveteran, hatte eine Kassette eingelegt und die Lautstärke aufgedreht. Es
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