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Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man

Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man

Titel: Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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durcheinander, einige brüllten etwas von einem Feuer, von Bomben und Terroristen.
    »Nicht so drängeln!«, schrie Amelia, aber niemand beachtete sie. Es wäre ohnehin unmöglich gewesen, die Woge noch aufzuhalten. Tausend Individuen waren zu einer einzigen Wesenheit verschmolzen. Einige Leute wollten ausweichen, doch die Masse sog sie förmlich in sich hinein und machte sie zum Teil dieser Bestie, die nun verzweifelt auf die helle Öffnung zusteuerte.
    Amelias Arm hing zwischen zwei Jugendlichen fest, die mit roten, angstverzerrten Gesichtern zu ihr aufblickten. Mühsam machte sie sich frei, nur um im nächsten Moment einen Stoß ins Genick abzubekommen, der sie automatisch nach unten sehen ließ. Auf dem Zeltboden schien etwas Fleischfarbenes zu liegen. Sachs erschrak, weil sie glaubte, dort würde ein kleines Kind niedergetrampelt, aber nein, es war ein kaputter Ballon. Eine Nuckelflasche, ein grüner Stofffetzen, Popcorn, eine Harlekin-Souvenirmaske, ein Discman wurden unter der Wucht der zahllosen Füße zermalmt. Falls jetzt jemand stürzte, würde er binnen weniger Sekunden tot sein. Sachs spürte, wie sie aus dem Gleichgewicht geriet, sie hatte keine Kontrolle mehr über ihren Körper; es kam ihr vor, als könne sie jeden Augenblick hilflos umfallen.
    Dann verloren ihre Füße tatsächlich den Kontakt zum Boden, und sie wurde zwischen zwei Menschen eingeklemmt – einem großen Mann in einem blutigen T-Shirt, der über seinem Kopf einen schluchzenden kleinen Jungen hielt, und einer Frau, die anscheinend nicht mehr bei Bewusstsein war. Die Schreie wurden lauter, sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen, und trugen nur noch mehr zu der Panik bei. Amelia bekam kaum noch Luft, und ihr war unerträglich heiß. Der Druck auf ihrer Brust drohte ihr Herz zum Stillstand zu bringen. Klaustrophobie – ihre eine große Angst – ergriff Besitz von ihr und lähmte sie mit einer übermächtigen Beklemmung.
    Wenn du in Schwung bist, kriegt dich keiner…
    Aber von Schwung konnte keine Rede sein. Amelia war eingeklemmt in einer erstickenden Masse aus wuchtigen, feuchten Leibern, die alle menschlichen Züge verloren und sich in ein Gewirr aus Muskeln und Schweiß und Fäusten und Spucke und Füßen verwandelten, das immer weiter und fester verdichtet wurde.
    Bitte nicht! Bitte, ich muss mich bewegen! Nur eine Hand. Nur einen Atemzug.
    Sie glaubte Blut zu sehen. Und zerrissenes Fleisch.
    Vielleicht ihr eigenes.
    Amelia Sachs fühlte, wie ihr die Sinne schwanden, halb vor Entsetzen, halb vor Schmerz und Atemnot.
    Nein! Ich darf nicht fallen. Nicht fallen!
    Bitte!
    Sie bekam keine Luft. Kein Kubikzentimeter Sauerstoff gelangte in ihre Lunge. Dann registrierte sie wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht ein Knie. Es bohrte sich in ihre Wange und blieb dort. Sie konnte die schmutzige Jeans riechen und sah dicht vor ihren Augen einen ausgetretenen Stiefel.
    Bitte, ich darf nicht fallen!
    Dann wurde ihr bewusst, dass sie längst gefallen sein musste.

…Einunddreißig
    Malerick befand sich im vierzehnten Stock des Lanham Arms Hotels an der Upper East Side von Manhattan und ging den Korridor entlang. Bekleidet war er mit einer täuschend echten Pagenuniform, und auf dem schweren Tablett, das er trug, standen eine Cloche und eine Vase mit einer großen roten Tulpe.
    Alles an ihm passte genau zur Umgebung, damit niemand Verdacht schöpfen würde, und er selbst stellte in diesem Moment den Inbegriff eines höflichen, freundlichen Pagen dar. Der abgewandte Blick, das angedeutete Lächeln, der leise Schritt, das makellose Servierbrett.
    Nur eines unterschied ihn von den anderen Pagen des Lanham: Unter der Metallhaube auf dem Tablett befanden sich weder eine Portion Eier Benedict noch ein Clubsandwich, sondern eine geladene Beretta Automatik mit dickem Schalldämpfer sowie ein Lederetui mit Dietrichen und anderen Werkzeugen.
    »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte er ein Ehepaar.
    Ja, das sei es, erwiderten sie und wünschten ihm noch einen schönen Tag.
    Er ging weiter und nickte dabei lächelnd den Gästen zu, die nach dem Sonntagsbrunch auf ihre Zimmer zurückkehrten oder zu einem Spaziergang aufbrachen, um den schönen Frühlingsnachmittag zu genießen.
    Durch eines der Fenster konnte er kurz ein Stück Grün sehen – eine Ecke des Central Park. Er fragte sich, was dort im weißen Zelt des Cirque Fantastique wohl gegenwärtig vorgehen mochte. Immerhin hatte er die letzte Zeit darauf verwandt, Spuren zu fingieren und diese

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