Der Favorit der Zarin
»Nobody is perfect. Allerdings stammt unser Baronet-Titel erst aus jüngster Zeit, mein Vater ist der erste Baronet Fandorin.«
»Für einen Briten sprechen Sie zu gut Russisch«, sagte Frau Kuzenko skeptisch. »Und . . .« Sie druckste herum, traute sich dann aber doch zu fragen: »Sagen Sie, wie kann jemand . . . Wie kann er beweisen, dass er wirklich einen Titel hat? Steht das im Pass Lord Sowieso oder Baronet Sowieso?«
»Warum denn im Pass? Man bekommt eine vom Monarchen unterschriebene Urkunde. Wollen Sie, dass ich Ihnen zeige, wie das aussieht? Ich habe sie bei mir. Sie trägt die eigenhändige Unterschrift von Queen Elizabeth.«
Fandorin bedeutete der Putzfrau, sie möge den Reisesack aus dem Flur holen, wobei er erstaunt über Jeannes Umsicht war. Zusammen mit den Autoschlüsseln, dem Telefon und dem Führerschein hatte man ihm die Urkunde seines Vaters ausgehändigt, die neben anderen Erbstücken in einem Schränkchen zu Hause gelegen haben musste. Daraus konnte man mindestens zwei Schlussfolgerungen ziehen. Die erste: Jeannes Gehilfen konnten also in fremde Wohnungen eindringen und dort eine Hausdurchsuchung durchführen, ohne dabei ein Chaos anzurichten und ohne überhaupt irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Die zweite Schlussfolgerung, die noch beängstigender war: Altyn und die Kinder waren gegen ein solches Eindringen absolut machtlos. Wahrscheinlich hatte ihm Jeanne genau das noch einmal demonstrieren wollen.
Während Inga Sergejewna neugierig die heraldischen Tiere auf der Urkunde studierte, fügte Nicholas, um noch eins draufzusetzen, hinzu:
»Wie Sie sehen, ist unser Baronet-Titel noch keine dreißig Jahre alt, aber das Geschlecht der Fandorins ist uralt, es lässt sich auf die Kreuzritter zurückführen.«
Die Frau bat irritiert:
»Darf ich mir vielleicht eine Kopie machen? Nein, nein, nicht zum Nachprüfen, wie kommen Sie darauf?« Und sie setzte ein Hollywood-Lächeln auf und gab zu: »Ich möchte es meinen Freundinnen zeigen, sonst glauben die das nicht. Wissen Sie, ich stamme ebenfalls aus einem adeligen Geschlecht. Mein Urgroßvater Semjon Pimenowitsch Konjuchow wurde unter dem Zaren Alexander III. persönlich geadelt. Das hier ist er, sehen Sie? Ich habe das nach einem alten Foto machen lassen.« Mitten an der Wand hing an einem Ehrenplatz das vom Lack glänzende Gemälde eines Beamten, der sich – nach den Glupschaugen und der Knubbelnase, besonders aber nach Vor- und Vatersnamen zu urteilen – aus einer Popenfamilie hochgearbeitet hatte. Nicholas wurde es peinlich, dass er mit seinen Kreuzrittern geprahlt hatte, aber Inga betrachtete ihren Vorfahren mit Stolz. Sie meinte wahrscheinlich, persönlicher Adel sei eine besonders ehrenvolle Variante der Aristokratie, mit persönlichem Chauffeur und persönlichem Leibwächter.
Danach ging die Unterhaltung zu praktischen Dingen über: wie viel der Gouverneur verdienen, wo er wohnen, mit wem er essen sollte. Nicholas wurde daraus klar, dass er sich nun glücklicherweise seinen Passierschein zum Schafott verdient hatte, und seine Anspannung legte sich etwas.
»Unsere Mira ist ein ganz ungewöhnliches Mädchen, das werden Sie schon selber sehen«, erzählte die Frau über die Schülerin. »In einigem ist sie sehr viel erwachsener als ihre Alterskameradinnen, in anderem ist sie dagegen noch ein richtiges Kind.«
Kann ich mir denken, dachte Fandorin missmutig, als er sich vorstellte, was für ein Kind in diesem Puppenhaus hinter der mit Videokameras bespickten Mauer wohl hatte aufwachsen können. Was wirklich ungewöhnlich war, das war ihr Name. Inga Sergejewna sah nicht wie eine Jüdin aus. Vielleicht war Herr Kuzenko Jude?
»Wie heißt das Mädchen, Myrrha?«, fragte Nicholas noch einmal nach.
»Nein, nein«, wehrte die Frau lachend ab. »Sie hat natürlich einen furchtbaren Namen, aber nicht ganz so schlimm, wie Sie dachten. Sie heißt nicht Myrrha, sondern Mira, das ist eine Verkleinerungsform von › Miranda ‹ . Das klingt natürlich etwas prätentiös, das muss ich zugeben, aber wir sind nicht gefragt worden.«
Diese rätselhafte Äußerung verunsicherte Fandorin, aber er traute sich nicht nachzufragen.
»Erstens müssen Sie Mira Englisch beibringen, damit sie so eine wundervolle Aussprache wie Sie bekommt.« Nach dem Daumen streckte Inga Sergejewna jetzt ihren dünnen Zeigefinger mit dem silbernen Nagel aus. »Zweitens wäre es gut, wenn sie auch so gut Russisch spräche wie Sie. Dass sie die Sätze nicht richtig baut und
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