Der Favorit der Zarin
gemeinsten Menschen. Ich bin ein überzeugter Gegner des Mordens, werde Euch jetzt aber trotzdem Euer Leben nehmen, nicht im Affekt und nicht aus Rache, sondern um Personen, die mir am Herzen liegen, zu retten. Wenn Ihr an Gott glaubt, so betet.«
Pikin fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, grinste dann und sagte:
»Zum Beten ist es zu spät für mich. Du hast mich überwältigt, stich zu! Mir hat mal eine Zigeunerin geweissagt, dass ich vom Eisen sterben werde.«
Und er blickte nicht mehr auf die Klinge, sondern richtete den Blick auf den Himmel, blies die Nüstern auf und öffnete den Mund, um ein letztes Mal gierig die kalte Luft einzuatmen.
Vondorin wartete – er gab dem Schuft die Möglichkeit, sich vom Leben zu verabschieden.
Oder hatte er etwas anderes vor?
»Ich weiß aus Erfahrung«, sagte er nachdenklich, »wenn es in dem schlimmsten Übeltäter auch nur einen einzigen anziehenden Aspekt gibt, so heißt das, er ist noch nicht endgültig für die Vernunft und die Menschheit verloren. Bei Euch sehe ich gleich zwei Aspekte: Ihr seid kühn, und Ihr wisst, was Würde ist. . . Das stimmt. Möchtet Ihr Eure Todesstunde aufschieben?«
»Wer will das nicht?«
»Gebt mir Euer Wort als Offizier und Adeliger, dass Ihr in Zukunft weder diesen Jungen noch die Euch bekannte Dame verfolgen werdet. Nie und unter keinen Umständen, selbst wenn es Euch Eure Vorgesetzten befehlen.«
Pikins Augen zwinkerten. Auf seinem Gesicht zeichnete sich zuerst eine schreckliche Verwunderung ab, dann wurde es bleich und bleicher. Merkwürdig, als sein Leben an einem Haar gehangen hatte, da hatte er rote Backen gehabt; jetzt, wo er Hoffnung auf Rettung hatte, war er auf einmal bleich geworden.
Ach, Daniel Ilarionowitsch, was tut Ihr da? Dieser ehrlose Kerl leistet doch jeden Schwur und wird dann später nur über Euch lachen!
Mitja knurrte sogar etwas aus Ärger über diesen einfältigen Gläubigen an das Gute und den Verstand.
Aber der Preobrashenze hatte es nicht eilig, sich an den Strohhalm zu klammern. Er lag schweigend da und blickte Vondorin in die Augen.
Schließlich schluckte er und sagte ganz leise:
»Ich gebe mein Ehrenwort als Offizier, Adeliger und als Andrej Pikin, dass weder der Teufel noch Beelzebub noch Jeremej und Platon mich fürderhin veranlassen können, hinter diesem Spatz da und hinter dem Wei. . .«
»Hinter Pawlina Anikitischna«, unterbrach ihn Daniel streng.
»Hinter Pawlina Anikitischna herzujagen«, wiederholte der Hauptmann noch leiser.
»Gut.« Vondorin nahm den Stummel von Pikins Kehle. »Auch ich gebe mein Wort, das Wort des Daniel Vondorin. Wenn Ihr Euer Versprechen brecht, so schwöre ich, ich werde Euch unter allen Umständen finden und umbringen. Und Ihr könnt mir glauben: Alle Listen und Tücken, die Ihr unternehmt, um diesem Ende zu entgehen – Ihr könnt Euch meinetwegen unter dem Thron der Zarin verstecken oder ans Ende der Welt flüchten –, sie werden mit vollem Recht nur den Namen verdienen: nutzlose Vorsicht.«
FÜNFZEHNTES KAPITEL
IM LANDHAUS TRAFEN DIE GÄSTE EIN
(Puschkin, 1822)
Alle Vorsichtsmaßnahmen waren vergebens. Er rief absichtlich um elf Uhr morgens an, weil Altyn da in der Arbeit und die Kinder im Kindergarten waren. Er wollte auf den Anrufbeantworter einen vorbereiteten, mehrmals redigierten und auswendig gelernten Text sprechen. Wenn Altyn auf einmal zu Hause wäre, wollte er den Hörer auflegen.
Alles begann wie geplant: Es tutete, und dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Nicholas sprach nach dem Pfeifton, wobei er sich Mühe gab, seine Stimme möglichst fröhlich klingen zu lassen:
»Altyn, ich bin’s. Den Zettel im Briefkasten kannst du vergessen, das war Valjas Eigeninitiative. Es geht um etwas ganz anderes. Ich habe einen dringenden, wichtigen Auftrag. Entschuldige, dass ich dir nichts erklären kann, ich habe vertraglich zugesichert, die Sache vertraulich zu behandeln. Ich bin nicht in Moskau, darum. . .«
»Wo bist du denn?«, erklang die Stimme seiner Frau. Fandorin prallte gegen die Glastür der Zelle und fragte wie ein Idiot:
»Bist du zu Hause?«
»Was ist passiert? Wo bist du? In was für eine Geschichte bist du gerasselt? Warum ist Glen im Krankenhaus? Und du? Bist du gesund?«
Um die Maschinengewehrsalve der kurzen, hysterischen Fragen zu unterbrechen, brüllte Nicholas in den Hörer:
»In welchem Krankenhaus ist er?«
»Irgendwo im Ausland. Seine Mutter hat nicht gesagt, wo genau. Sie war überhaupt sehr grob. Ich
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