Der Favorit der Zarin
doch nicht gleich den Kopf abreißen.«
Der Oberbefehlshaber schaute auf die Uhr.
»Okay. Es ist jetzt fünf vor drei. Wir fahren, wie geplant, um vier los. Ohne Hektik, ganz ruhig. Ich muss jetzt zu Mirotscha gehen und mit ihr sprechen. Ich erkläre ihr alles der Reihe nach, einen Punkt nach dem anderen.«
An der Tür des Arbeitszimmers scharrte jemand leise mit den Fingernägeln. Ohne die Antwort abzuwarten, trat Inga Sergejewna lächelnd ein – sie hatte Jeans an, einen Cardigan, ihr Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Als sie die angespannten und besorgten Männer sah, wurde sie ebenfalls bleich.
»Was ist denn los, Mirat? Ist etwas passiert?«
»Nikolaj Alexandrowitsch wird dir alles erklären. Igor, Lukjanowitsch, los an die Arbeit. Keine Angst, meine Liebe, es wird schon nicht schief gehen.«
Er küsste seine Frau kurz und schritt zum Ausgang. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal Fandorin zu und sagte:
»Sie können ihr ruhig alles sagen. Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Frau.«
Und das »Küken«?, dachte Nicki. Aber eigentlich geht mich das ja gar nichts an. Und er stöhnte und zwar nicht wegen der ehelichen Untreue von Mirat Leninowitsch, sondern weil er ahnte, was für ein schweres Gespräch ihm bevorstand, ein Gespräch, zu dem unweigerlich Seufzer, Schreie und sicher auch Tränen gehören würden.
Gott sei Dank war er von Anfang an auf die Idee gekommen, der Dame Cognac einzuschenken – die Flasche kam ihm jetzt sehr zupass. Sobald er bemerkte, dass Inga Sergejewnas Augen sich weiteten und ihr Kinn zu zittern begann, goss er nach. Frau Kuzenko kippte fügsam die braune Flüssigkeit hinunter und beruhigte sich für ein Weilchen. So kam er mit Hilfe des Cognacs schließlich zum Ende des Thrillers.
Nicholas langte auch selbst ein paarmal zu, er setzte sich einfach die Flasche an den Hals – der Knigge war ihm im Augenblick herzlich egal. Als die Flasche leer war, ging Inga (wie der Vatersname Sergejewna, so fiel auch die idiotische Anrede mit »Sir« im Verlauf des Gesprächs von selbst unter den Tisch) eine Flasche irischen Whiskey aus der Schrankbar holen.
Das war der Punkt, an dem sie endlich das Wort ergriff. Nicki lauschte ihr, ohne sie zu unterbrechen. Er spürte, dass die Frau sich aussprechen musste, und die Erzählung, die anfangs nicht besonders spannend war, wurde immer farbiger und dramatischer.
»Mirat hat Ihnen die Sache vom Business-Standpunkt aus erzählt«, begann Inga, die Bernsteinfünkchen in ihrem Glas beobachtend. »Nur das Business ist nicht das Einzige, was hier eine Rolle spielt. . . Und nicht das Wichtigste. Vom Standpunkt eines Mannes vielleicht das Wichtigste, aber wir Frauen haben andere Vorstellungen davon, was wichtig und was unwichtig ist. Ich erzähle Ihnen jetzt ein Geheimnis. Mirat, Jastykow und ich, wir drei sind in dieselbe Klasse gegangen. Ja, ja, ich bin uralt.« An dieser Stelle wunderte sich Fandorin pflichtbewusst, obwohl ihm dieses »Geheimnis« ja schon bekannt war. »Dann also, wie man so sagt, auf die Jugend und die Schönheit!« Sie stießen an und leerten ihr Glas. »So dass wir uns seit unserer Kindheit kennen. Seit der fünften Klasse oder so. Oder seit der sechsten. Jasti war mit seinen Eltern vorher im Ausland gewesen. Er hatte nur Westsachen mit Markenzeichen: Lastexhose, Adidasschuhe, schicke Filzstifte. Das war zu jener Zeit noch eine Seltenheit. Außerdem sah er schon damals gut aus. Mirat dagegen trug eine Brille und war ein Streber. Ein schmächtiges, hässliches Würstchen. Entsprechend war sein Spitzname: Kuzyj, der Kurze. Er himmelte mich an, aber ich war genauso dumm wie die anderen Mädchen. Ich schwärmte für Jungen vom Typ Oleg Widow und Nikolaj Jerjomenko – hochgewachsene mit breiten Schultern –, während ich den Kurzen abblitzen ließ und auf den Arm nahm, manchmal recht brutal. . . Jasti machte sich ebenfalls über ihn lustig. Ich glaube, er verprügelte ihn sogar manchmal – nicht aus Bosheit, sondern eher zum Spaß. Und ein paar Jahre später gab es zwischen uns Jugendlichen die ersten romantischen Affären. Ich verliebte mich über beide Ohren in Jasti. Natürlich wollte ich auch die anderen Mädchen ausstechen, sie waren alle scharf auf ihn. Nach einem Schulfest am Ende der neunten Klasse lud er mich nach Hause ein. Seine Eltern waren weg, sie waren verreist. Jasti legte › Jesus Christ Superstar ‹ auf, ich trank ein bisschen Likör und, wie man damals in den sowjetischen Filmen
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