Der Favorit der Zarin
durch den Verdacht, den er aus ihrer Stimme heraushörte, wollte sich Nicholas nicht das bittere Vergnügen nehmen lassen, die Bedingungen offen zu legen, und bat:
»Oleg Stanislawowitsch, na, erzählen Sie doch, wie mein Honorar aussieht.«
Eigentlich wollte er Mira nur zeigen, wie sehr sie ihm Unrecht tat, doch Jastykow verstand seine Worte anders. Der Unternehmer sicherte sich schnell durch einen kurzen Blickkontakt mit Jeanne ab und sagte:
»Nikolaj Alexandrowitsch, wir haben doch eine klare Absprache getroffen. Wenn Ihnen diese Bedingungen nicht Zusagen, bin ich bereit, Ihrer Familie außerdem noch eine Entschädigung zu zahlen. Aber Sie am Leben lassen, kann ich nicht. Nennen Sie lieber eine Summe, Sie können sicher sein, ich werde sie bezahlen. Wenn ich mein Wort gebe, halte ich es auch.«
Ein toller Gedanke, dachte Fandorin. Früher oder später würde Altyn herausfinden, wer ihren Mann ermordet hatte, so war sie nun mal. Und wenn sie endlich die Wahrheit ans Licht gebracht hätte, würde sie sich mit Sicherheit rächen wollen. Christlichen Moralvorstellungen konnte sie nichts abgewinnen, sie dachte nicht im Traum daran, ihren Feinden zu verzeihen, und für das eine Auge, das jemand ausgerissen hätte, würde sie dem Schuldigen alle beide auskratzen. Ehrlich gesagt, er konnte sie im Moment nicht für ihr blutrünstiges Temperament verurteilen. Wie viel wohl ein guter Killer für die Beseitigung dieses Traumpaares haben wollte?
Fünfzigtausend?
Hunderttausend ?
Der Grund dafür, welche Richtung die Gedanken des Magisters der Geschichte eingeschlagen hatten, war natürlich nur sein zerrüttetes Nervensystem und die emotionale Erschöpfung, aber Fandorin war das jetzt ganz egal. Er lächelte und sagte:
»Hunderttausend Dollar. Machen Sie die Überweisung doch gleich jetzt. Die Kontoangaben habe ich in meinem Notizbuch . . .«
»Nein!«, schrie Miranda.
Nicht hysterisch und nicht weinerlich, sondern gebieterisch, so dass sich alle zu ihr umdrehten.
»Er muss am Leben bleiben. Sonst kriegen Sie statt des Kombinats einen Dreck, ist das klar?«
Hätte das Mädchen weitergesprochen, mit Händen und Füßen gefuchtelt und gekreischt, hätten sie wahrscheinlich versucht, sie einzuschüchtern. Aber sie sagte keinen Ton mehr. Sie stellte sich quer und stand mit gerecktem Kinn da, was hieß: entweder musste man sie auf der Stelle umbringen oder tun, was sie wollte.
Jeanne blickte erstaunt auf Mira.
»Wenn man es sich genau überlegt«, sagte die Spezialistin für interessante Situationen einlenkend, »was weiß er denn schon? Gut, er hat mich gesehen. Aber da ist er nicht der Einzige. Das macht nichts. Mich kriegt sowieso keiner, ich bin noch jedem davongelaufen.«
»Das passt mir nicht«, sagte Jastykow kopfschüttelnd. »Das verstößt gegen meine Grundsätze. Er hat alles gesehen und gehört. Wir haben ihm allerhand Überflüssiges erzählt. Nein, nein.«
Da machte Mira etwas Unglaubliches. Sie nahm die Schere vom Tisch, streckte ihre rosa Zunge heraus, so weit sie konnte, und stammelte etwas Unverständliches. Doch der Sinn war eindeutig: Ich schneide mir gleich die Zunge ab.
Jastykow starrte lange mit gerunzelter Stirn auf dieses schreckliche Bild. Dann sagte er finster und mit Nachdruck:
»Nikolaj Alexandrowitsch, wenn Ihre Kinder Sie zur Weißglut bringen und Sie den Wunsch haben, sie loszuwerden, dann erzählen Sie jemand, egal wem, was Sie hier gesehen und gehört haben. Ich werde mit Sicherheit sofort davon erfahren und Ihren Wink verstehen. Okay?«
Bis zu diesem Augenblick hatte sich Fandorin in der Gewalt gehabt, er hatte sich Mühe gegeben, tapfer seinen Mann zu stehen, aber jetzt wurde er bleich und begann zu zittern. Wenn du das Leben schon abgeschrieben hast, ist die Rückkehr zu ihm genauso qualvoll wie der Abschied davon. Ein Zögling des Waisenhauses von Krasnokommunarsk hatte soeben das Unmögliche geschafft: Das Mädchen hatte die Begnadigung für einen zum Tode Verurteilten erwirkt. Und so einfach! Ein paar kurze Sätze, die lächerliche Provokation mit der Schere, und er war dem Tod entkommen. Zumindest hatten sie das gesagt. . .
Um Punkt zwölf Uhr mittags betrat Fandorin das Haus »Kaffee Tun« auf dem Puschkin-Platz. Er ging in den ersten Stock und suchte Mirat Leninowitsch, konnte ihn aber nicht finden.
An vier Tischen im Hinterraum saßen kräftige junge Männer im Anzug und mit Krawatte; sie hatten alle einen Espresso vor sich stehen, den sie nicht angerührt hatten.
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