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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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oft habe ich dir das schon zu erklären versucht?«
    Sie griff nach seiner Hand, betrachtete die geschwollenen Knöchel und sagte:
    »Das sieht man.« Plötzlich überkam es sie, sie küsste die blutigen Finger und brach in Tränen aus.
    Anatoli tippte Fandorin auf die Schulter und drängte:
    »Los, weg hier. Max müssen wir hier lassen. Er wird bald zu sich kommen. Er ist ein alter Hase und wird schon alleine zurechtkommen.«
    Unten vor dem Haus drehte Plattnase schnell den Kopf nach rechts und nach links und streckte Nicholas die Hand hin.
    »Okay, Kolja, lass es dir gut gehen.«
    »Was wirst du jetzt machen?«
    »Ich gehe in den Kaukasus. Zu den Abchasen oder nach Machatschkala. Da können sie immer jemand brauchen.«
    Er klappte den Kragen seiner Jacke hoch, nickte Mira zu, sprang über einen Zaun und war hinter den kahlen Büschen verschwunden. Erst schaukelten die Zweige noch, dann hörten sie auf. Von dem schlechten Profi mit dem Namen Anatoli waren nur noch ein paar Spuren im Schnee zu sehen.
    »Und wohin sollen wir gehen?«, fragte Mira und wischte sich die Tränen ab. »Zu Vater? Oder wohin sonst?«
    Ja, deinem Vater würde ich gerne ein paar Fragen stellen, dachte Nicholas. Doch er behielt das für sich und sagte:
    »Ich weiß noch nicht. Hauptsache, weit weg.«
    Sie gingen schnell die Kimrinskaja Uliza entlang. Mira konnte nur mit Mühe mit ihrem Lehrer Schritt halten, sie musste immer wieder rennen, um ihn einzuholen.
    Fandorin schaute, ohne stehen zu bleiben, nach hinten, um ein Auto anzuhalten.
    Das erste, das hielt, war eine Gazelle, ein Planwagen.
    »Wohin wollen Sie?«, fragte der Fahrer.
    »Nichts wie weg von hier«, brummte Nicholas, der nervös auf den hinter einer Biegung hervorschießenden schwarzen Jeep starrte. Als ihm einfiel, dass man über das Handy den Standort eines Menschen herausfinden kann, zog er den Apparat aus der Tasche und warf ihn unauffällig unter den Wagen.
    »Für einen Hunderter könnt ihr mit mir bis Jerusalem fahren«, bot ihnen der Fahrer gutgelaunt an.
    Der Jeep fuhr vorbei.
    »Wohin bitte?«, fragte Nicki den Spaßvogel entgeistert. »Nach Jerusalem?«
    »Ja, ja. Ich habe eine Fuhre Kerzen für Neu-Jerusalem.«
    Ach so, er meinte das Kloster Neu-Jerusalem, wurde Nicholas klar. Das war ja gar nicht so weit von Trost entfernt.
    Obwohl das noch die Frage war, ob es überhaupt sinnvoll war, nach Trost zu fahren.
    Das kann ich mir ja unterwegs noch überlegen, dachte Fandorin.
    Sie stiegen ein und fuhren los. Links saß der fröhliche Fahrer, trällerte das Lied vom Väterchen Bataillonskommandeur und dem Genossen Obersergeant, rechts saß Nicholas, dachte an Mirat Leninowitsch und Oleg Stanislawowitsch, und in der Mitte saß Mira, die schniefte und schluchzte.
    So, jeder in eine andere Beschäftigung vertieft, gelangten sie schließlich nach Istra.
    Die goldene Kuppel des Auferstehungsklosters – deren bauchige plumpe Form nach Fandorins Kenntnis in der russischen Architektur nicht ihresgleichen hatte – blitzte schon lange über den Feldern, bevor der Lieferwagen in dem stillen Städtchen ankam. Versunken in den Anblick des auffälligen Baus, vergaß Nicholas für einen Moment seine Sorgen und erinnerte sich an den unbeugsamen Patriarchen Nikon, der die Idee gehabt hatte, dem Machtanspruch Moskaus etwas entgegenzustellen und eine neue Gottesstadt zu errichten. Und da weder der Patriarch noch seine Baumeister je im Heiligen Land gewesen waren, stützten sich ihre Kenntnisse auf europäische Bilder, auf denen Jerusalem wie eine märchenhafte Burg mit einem goldenen Turm gotisch-maurischen Stils aussah. Wie typisch russisch das doch war, ein europäisches Phantasiegebilde verwirklichen zu wollen. Aber besser ein Kloster als ein preußisches Sowjet-Paradies im Land der unvernünftigen Reußen.
    Sie verabschiedeten sich von ihrem Fahrer, der seine Fracht zu Vater Ipati bringen musste, und stiegen am Eingangstor aus.
    Fandorin war in der Frage, über die er sich den ganzen Weg seit Moskau den Kopf zerbrochen hatte, zu keiner Lösung gekommen.
    Sollte er nun zu Kuzenko gehen oder nicht? Dieser Mann hatte seine Entscheidung getroffen. Sie war ihm sicher nicht leicht gefallen, aber sie war endgültig und nicht rückgängig zu machen. Wahrscheinlich war es folgendermaßen gewesen. Er hatte aufrichtig vorgehabt, die Bedingungen der Absprache einzuhalten, aber als er die siegesgewisse Visage seines Feindes sah, hatte der Hass die Liebe aus seinem Herzen verdrängt und die Oberhand

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