Der Favorit der Zarin
gewonnen. Oder sein Motiv war weniger romantisch: Mirat Leninowitsch brachte es einfach nicht über sich, jemand anderes den Reibach machen zu lassen und zu verzichten. Hypnotisiert wie der tschechowsche Diakon, der auf ein Fass schwarzen Kaviar starrt, hatte er darüber alles andere vergessen. Wie dem auch sei, er hatte sich eindeutig von seiner Tochter losgesagt und sein Einverständnis gegeben, nicht mehr ihr Vater zu sein.
Nun war die Frage: War Mira damit einverstanden?
Das Mädchen blieb ein Weilchen neben dem schweigsamen Magister stehen und unternahm dann einen Spaziergang durch den Klosterbezirk. Den Kopf in den Nacken geworfen, betrachtete sie staunend die Kuppeln und hockte sich hin, um die verwitterten Inschriften auf den alten Grabsteinen zu studieren. Sie wirkte wie eine ganz normale Touristin, die mit ihrer Klasse oder den Eltern gekommen war und ihrer eigenen Wege ging.
Sicher, Mirat Leninowitsch war ein Schuft, dachte Nicholas. Und wenn die Situation nicht so verzwickt wäre, müsste man diesen habgierigen Typen, diesen Geizkragen einfach verachten und aus seinem Leben streichen. Aber wo sollten sie Schutz vor der Gefahr suchen, wenn nicht bei Kuzenko?
Jeanne war zwar nicht mehr am Leben, aber Jastykow war ja noch da. Der würde sich mit Sicherheit rächen wollen, an Banditen fehlte es Oleg Stanislawowitsch auch ohne Jeanne nicht. Einer von ihnen war zur Beobachtung von Fandorins Wohnung abgestellt. Da wohnte eine kleine schwarzhaarige Frau mit zwei Märchenfans von vier Jahren, die Jasti nur dann versprochen hatte, am Leben zu lassen, wenn die Operation nicht fehlschlüge. Und Jastykow hatte betont, er halte sein Wort.
Und vor diesem Hintergrund wurden alle anderen Überlegungen unwichtig.
Als sich Nicholas schnell auf den Weg zu Mira aufmachte, hatte er nur ein einziges Ziel: Er wollte sie dazu überreden, zu ihrem Vater zurückzukehren. Wenn das Mädchen sich quer stellte, wären Altyn und die Kinder verloren – dann gäbe es keinen, der sie beschützen konnte.
Miranda stand über eine graue, moosbedeckte Grabsteinplatte gebeugt. Sie drehte sich nach Fandorin um; ihre Augen waren trocken, das Gesicht undurchdringlich. Sie musste also bereits eine Entscheidung getroffen haben, erriet er mit stockendem Herzen.
»Guck mal, was für eine komische Inschrift«, sagte sie und fuhr mit dem Finger über die kaum erkennbaren Buchstaben. – An dieser Stelle ist der Cavallerie-Gardewachtmeyster Dmitri Alexejewitsch Karpow begraben, welchselbiger im siebten Lebensjahre den Hertzen seyner sich an seynen Erfolgen im Stvdivm frevenden Eltern eine travrige Erinnerung dvrch seyn am 16. März 1795 eingetretenes jaehes Ende bereytete. Rvhe, dv lieber Stavb, bis zum Tag, da es nicht Abend wird.
»Was ist denn daran komisch?«
»Na, wie soll denn jemand im siebten Lebensjahr Kavallerie-Gardewachtmeister sein? Und dann dieser Bandwurmsatz, da blickt man ja überhaupt nicht mehr durch.«
»Eine komplizierte Rhetorik gehörte damals zum guten Ton«, erklärte Nicholas, der nicht wusste, wie er das Gespräch anfangen sollte.
Mira wiederholte nachdenklich:
»Wie schön das klingt, › der Tag, da es nicht Abend wird ‹ . Woran der Junge wohl gestorben ist? Schade um ihn.«
Sie richtete sich auf und ging weiter. Nicholas ging hinter ihr her und fühlte mit wachsender Verzweiflung, dass er nicht die richtigen Worte finden würde, um seine stolze Schülerin dazu zu bringen, zu diesem Vater, der sie verraten und verkauft hatte, zurückzukehren.
An diesem kalten, sonnigen Novembertag war das Kloster menschenleer. Die verschneiten Bäume, vergessenen Gräber und in der Erde versinkenden alten Mauern, all das schien auch gar keine Menschen zu brauchen, es kam blendend ohne sie aus.
Vielleicht schlug Mira deshalb den Weg ein, der von den Kirchen zu der fernen Mauer führte, wo die Häuschen der Klosterdiener lagen.
Nicholas trottete hinterher und blickte auf die Zäune, Gemüsegärten und Fenster mit den bunten Vorhängen, ohne irgendetwas zu sehen. Wie sollte er die richtigen Worte finden, damit sie ihren Schmerz und die furchtbare Verletzung überwand und Mirat Leninowitsch trotzdem verzieh? Gab es solche Worte überhaupt?
Es war sehr still, nur der Schnee knirschte unter den Füßen, und irgendwo dröhnte ein Radio.
»Chronik der Verbrechen«, meldete eine muntere Frauenstimme. »Heute Morgen wurden in einem BMW auf dem Parkplatz am Gebäude des Komitees für Staatseigentum zwei Leichen mit Schusswunden
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