Der FC Bayern und seine Juden
konstituiert sich ein provisorisch regierender Zentralrat der bayerischen Republik. In der Folgezeit streitet man heftig über die Frage »Parlamentarismus oder Räterepublik«, wobei die Räte-Befürworter bald durch die Ausrufung einer sozialistischen Räterepublik in Ungarn Auftrieb erhalten. Am 7. April wird in München die Räterepublik proklamiert, und Thomas Mann schreibt in sein Tagebuch: »Wir haben ›Räteregierung‹ à la russe.«
Viele Münchner Juden fürchten nun einen antisemitischen Furor. Einer von ihnen ist Sigmund Fraenkel, der langjährige Vorsitzende des orthodoxen Synagogenvereins Ohel Jakob und Propagandist eines »bodenständigen bayerischen Judentums«. Fraenkel verfasst einen offenen Brief an einige jüdische Köpfe der Räterepublik, in der er diese als »landfremde, des bayerischen Volkscharakters unkundige Phantasten und Träumer« denunziert. Man habe geschwiegen, »weil wir fürchteten, unsere Glaubensgemeinschaft zu schädigen, wenn wir Sie in der Öffentlichkeit abschütteln. (…) Der heutige Tag, an dem Tausende und aber Tausende von aufreizenden antisemitischen Flugblättern in Münchens Straßen verteilt wurden, zeigt mir mit aller Deutlichkeit die Größe der Gefahr, die nicht die Bekenner unserer Glaubensgemeinschaft, sondern das Judentum selbst bedroht, wenn die große Masse von Münchens werktätiger Bevölkerung die erhabenen Lehren und Dogmen der jüdischen Religion in ideellen Zusammenhang mit den bolschewistischen und kommunistischen Irrlehren bringt, die Sie seit Wochen den durch die viereinhalbjährige Kriegsdauer zermürbten und verwirrten Volksmassen predigen. (…) Dieses Judentum hat Sie und Ihre verworrenen und krausen Phantasien nicht gebraucht.«
Sigmund Fraenkel behält mit seinen Befürchtungen recht, verkennt aber, dass der Antisemitismus auch dann bestens funktioniert, wenn Judentum nicht mit »bolschewistischen und kommunistischen Irrlehren« assoziiert wird. Einige Jahre später, Deutschland und München werden durch die Inflation malträtiert, wird man den Münchner Ostjuden nunmehr »kapitalistische Raffgier« vorwerfen: Sie hätten sich zum Schaden der bayerischen Bevölkerung an der heimischen Wirtschaft bereichert.
Am 30. April 1919 begehen Freikorps in den Vororten Münchens grausame Massaker an Angehörigen der »Roten Armee« der Räterepublik und unbeteiligten Zivilisten. Gustav Landauer, der der Räterepublik längst den Rücken gekehrt hat, wird inhaftiert, geprügelt, gefoltert und, wehrlos am Boden liegend, erschossen. Anschließend wirft man seinen Körper in die Waschküche des Gefängnisses. Am 2./3. Mai 1919 wird München von der Reichswehr und rechtsradikalen Freikorps eingenommen.
Die meisten führenden Mitglieder der Münchner Räterepublik werden vor Standgerichten des Hochverrats angeklagt. Gegen Ernst Toller und Erich Mühsam, aus Posen (Deutsches Reich, später Polen) bzw. Berlin stammende jüdische Literaten, werden fünf bzw. 15 Jahren Festungshaft verhängt. Eugen Lévine, Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus St. Petersburg und Kopf der zweiten Münchner Räterepublik, wird sogar zum Tode verurteilt und am 5. Juni 1919 im Gefängnis Stadelheim erschossen. München hat seinen ersten antisemitischen Furor, kaschiert als Niederschlagung des Bolschewismus.
Die Räterepublik verschwindet, und mit ihr das »linke Judentum« Münchens. Der Antisemitismus aber bleibt und wird im Laufe der Weimarer Republik weiter zunehmen. München wird zu seiner Hochburg. Heike Specht: »Krieg, Revolution und Räterepubliken (veränderten) die Atmosphäre in der Stadt und damit auch die Parameter jüdischen Lebens in ihr dauerhaft. Mehr und mehr wurde München zum Sammelbecken für chauvinistische, revisionistische und antisemitische Kräfte und Gruppierungen.«
Die Niederschlagung der Räterepublik ist nur ein erster Prolog für das, was nach dem 30. Januar 1933 kommen wird. Weitere werden folgen.
Pioniere der Moderne
Wie sich ein Jude definiert, primär als Deutscher oder primär als Jude, als Deutscher jüdischen Glaubens oder als Jude deutscher Staatsangehörigkeit, ist auch abhängig vom Verhalten der nicht-jüdischen Mitbürger. Auf den Sport bezogen heißt dies für den amerikanischen Soziologen Andrei Markovits: »Wie in Politik, Gesellschaft und Kultur verfolgen Juden auch im Sport eine zweigleisige Strategie, die im wirklichen Leben zwar Wechselwirkungen untereinander gestattet, deren Konzepte sich aber von ihrer jeweiligen
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