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Der Federmann

Der Federmann

Titel: Der Federmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Bentow
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anstelle der schwarzen Jeans wählte er die verwaschene blaue. Er betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel, fuhr mit den Händen durch das struppige kurze Haar und über die angegrauten Schläfen.
    Bin ich ein schlechter Vater?, fragte er sich. Da ruft die eigene Tochter im denkbar ungünstigsten Moment an, und schon habe ich ein schlechtes Gewissen.
    Er griff nach seiner Jacke und eilte aus der Wohnung, nahm im Treppenhaus zwei Stufen auf einmal und zog den Kopf ein, als er an Doros Tür vorbeikam.
    Er schwang sich auf sein Rad und strampelte los: Richtung Südstern, dann durch die Bergmannstraße, er passierte den Mehringdamm und fuhr an der Osteria und dem Kreuzberg vorbei.
    Osteria, dachte er, das wäre doch ein feiner Plan. Selbst wenn der Abend sich anfangs mehr wie ein Termin anfühlen würde, eine Therapiestunde mit dem Anflug eines Flirts, könnte er hinterher immer noch vorschlagen, mit ihr dort eine Kleinigkeit zu essen.
    Nein, die Osteria war von ihr aus zu weit weg, strategisch ungünstig.
    Allerdings ungefähr in der Mitte zwischen ihrer Praxis und seiner Wohnung gelegen, also vielleicht doch nicht ganz verkehrt.
    Ruhig, nur ruhig, dachte er. Als er auf der Monumentenbrücke
die Bahntrasse überquerte, hob er kurz den Blick zu den Hochhäusern am Potsdamer Platz, die im Abendrot aufleuchteten.
    Schon hatte er Schöneberg erreicht.
    Gleich hinter der Langenscheidtbrücke bog er in die Crellestraße ein. Er überlegte, ob es nicht auch im Toronto, nur ein paar Meter weiter, einen ruhigen Platz gab, wo man sich bei einem Glas Wein näherkommen könnte.
    Er hielt vor dem Haus Nummer vierunddreißig.
    Die Mailuft war klar und verheißungsvoll, mit einer Ahnung von Sommer durchmischt.
    Sein Herz schlug heftig und wild. Es ist nur ein Termin, sagte er sich, nur ein Termin.
    Er schloss sein Rad ab und drückte auf den Klingelknopf. Prompt ertönte der Summer, und er trat ein.
    Er stieg die Treppe zu ihrer Praxis hinauf. Kurz darauf öffnete sie ihm die Tür.
    »Da sind Sie ja, Herr Trojan, nur ein ganz klein wenig verspätet«, sagte sie und ließ ihn herein.
    Er atmete tief durch.
    »Mein letzter Patient heute«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
     
    Die Haut war weiß.
    Nannte man das Haut bei einem Vogel?
    Gänsehaut, Vogelhaut. Lene rieb sich mit den Händen über die Arme, wo es kribbelte.
    Der Bauch des Vogels fehlte. Wo der Bauch sein sollte, war nur ein Loch, und daraus quoll es rot hervor.

    Lene stand lange sprachlos da, rieb sich die Arme und krümmte den Rücken.
    Es sah eklig aus, aber sie durfte sich nicht ekeln, vielleicht konnte sie dem Vogel ja helfen, vielleicht lebte er noch, sie könnte ihm einen Verband anlegen, wie sie es auch bei Jo manchmal tat, wenn er über Schmerzen klagte.
    Lene bückte sich und hob den Vogel auf.
    Armer kleiner Vogel, was ist mit dir nur passiert, dachte sie.
    Da hörte sie ein Geräusch. Es klang wie ein Schnappen.
    Es kam aus dem Schlafzimmer der Mutter.
    »Mama?«
    Sie drückte den Vogel an sich, er war tot, sie wusste, dass er tot war, aber wenn sie sich ganz fest einbildete, dass er lebte, könnte sie ihn vielleicht noch einmal fliegen lassen eines Tages, wenn auch nur in ihrer Phantasie.
    »Mama?«
    Der Ruf blieb in ihrer Kehle stecken.
    Sie näherte sich der Tür.
    Mit der einen Hand presste sie den toten Vogel an ihre Brust, mit der anderen Hand drückte sie die Tür auf.
    Die Mutter lag auf dem Bett. Sie war nackt. Eine Gestalt hockte auf ihr.
    Lene sah sofort auf die Füße der Mutter, nur auf die nackten Füße, damit sie den Rest nicht anschauen musste.
    Etwas stimmte nicht mit den Füßen.
    Sie waren ganz starr.
    Ob die Mutter schlief?
    Da hörte sie wieder das Schnappen.
    So schnappte nur eine Schere.

    Es war die Gestalt, die auf der Mutter hockte. Sie ließ die Schere schnappen.
    Lene wollte schreien, aber sie bekam keinen Ton heraus.
    Da drehte sich die Gestalt zu ihr um.
    Sie hatte kein menschliches Gesicht. Und etwas ragte daraus hervor.
    Es war spitz, und es war lang.
    Endlich konnte Lene sich rühren. Sie drehte sich um und rannte.
    Sie spürte einen Luftzug in ihrem Rücken, und mit einem Mal war da ein stechender Schmerz in ihrer Schulter.
    Sie schrie.
    Schon war sie an der Wohnungstür und riss sie auf.
    Sie war draußen. Sie sah die Treppenstufen auf sich zustürzen. Alles drehte sich um sie herum.
    Sie fiel.
    Ihre Schreie hallten im Treppenhaus wider, gellend und schrill.

ZWEITER TEIL

SIEBEN
    S ie saß ihm gegenüber in dem

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