Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Kontrollverlust in zunehmende Dissoziation gerieten).
Die forensische Psychiaterin Jennifer Steinbach und ihre Kolleginnen vom forensisch-psychiatrischen Dienst in Bern gehen nach intensiven Untersuchungen davon aus, dass „ein großer Anteil von Personen mit der Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung in frühen Lebensabschnitten traumatische Erfahrungen gemacht hat – und dass die zur traumatischen Erfahrung gehörende Dissoziation (als anfänglich sinnvolle, mit der Zeit jedoch dysfunktionale Coping-Strategie) zur Symptombildung dieser schweren Persönlichkeitsstörung geführt hat“ (Steinbach et al. 2009).
Bereits 1999 hatten Joan Ellason und Colin Ross Gewaltopfer und Täter untersucht und festgestellt, dass beide Gruppen ähnliche Dissoziations-Profile aufwiesen. 77 % der Sexualtäter und 92 % der Opfer von Sexualstraftaten zeigten dissoziative Störungen.
In einer Meta-Studie kommt der britische Psychiatrieforscher Andrew Moskowitz (2004a) zum dem Schluss, dass insbesondere die Traumaopfer, die viel dissoziieren, gefährdet sind, später zum Täter oder zur Täterin zu werden. Als protektiven (schützenden) Faktor Nummer eins nennt er sichere, haltgebende Beziehungen. Viele Täter seien durch ihre eigene Tat traumatisiert. Der hohe Anteil von Tätern, die während der Tat stark dissoziierten (in Trance gingen, unansprechbar waren, kein Körpergefühl mehr hatten bis hin zu „Out-of-body“-Erfahrungen etc.), ebenso wie die hohe Zahl von Amnesien (bereits während der Tat nicht mehr wissen, was gerade vorher gewesen ist) spräche dafür. Und er entwickelt aus seinen eigenen sowie den von ihm ausgewerteten Studien folgende Hypothese:
„Sowohl deskriptiv wie nach den physiologischen Studien gibt es interessante Ähnlichkeiten zwischen Straftätern, die als Psychopathen klassifiziert werden, und solchen Menschen, die unter einer dissoziativen Depersonalisationsstörung leiden. Außerdem könnten die intensiven Zwangsfantasien, unter denen viele Gewalttäter und sadistische Mörder leiden, dissoziativer Natur sein und zu einer Form von dissoziativer Identität führen (Carlisle 1993), und der stille, ruhige Mensch, der in blinder Raserei explodiert – der ‚überkontrollierte Täter‘ (Megargee, 1966) könnte als dissoziativer Täter verstanden werden. Hierzu sollte unbedingt mehr geforscht werden (s. auch Moskowitz 2004b).“ Leider fehlen hierzu viele Studien; der Forschungsbereich „vom Opfer zum Täter“ ist noch nicht ausreichend eruiert, schon überhaupt nicht unter dem Blickwinkel der strukturellen Dissoziation. Doch es würde sich natürlich lohnen, nicht nur nach den klassischen Geistes- und Persönlichkeitsstörungen zu schauen (Schizophrenien, Psychosen, Borderline etc.), sondern auch die dissoziativen Störungen vermehrt in die Beurteilung der Schuldfähigkeit mit einzubeziehen.
17.3 Was also tun mit Gewalttätern?
Man kann es sich leicht machen und Stammtischparolen zur Schuldfähigkeit von Straftätern wiederholen, also sagen: „Wegsperren, entweder ins Gefängnis oder die forensische Psychiatrie.“ Verständnis und Mitmenschlichkeit braucht es dann nicht mehr, wenn jemand sich erst einmal wie ein Unmensch gebärdet hat. Diese Position ist in der Bevölkerung weitverbreitet, und wer selbst einen lieben Menschen durch die Gewalttat eines anderen verloren oder sein Leid aus der Nähe mitbekommen hat, den kann ich verstehen. Doch ist das eine Einstellung, die wir in einem humanistisch gesinnten Zeitalter haben oder beibehalten dürfen? Ich finde: Nein.
Zwar verstehe ich alle, die wütend sind, weil Opfern so wenig geglaubt wird, weil es Tätern vermeintlich so gut geht, sie so zartfühlend und verständnisvoll behandelt werden, so milde be- und verurteilt werden – was durchaus manchmal so ist, aber keineswegs immer. Die Mühlen unserer Justiz mahlen langsam, viel zu langsam. Es dauerte viele Jahre, bis 2012 endlich der „Warnschuss-Arrest“ für jugendliche Straftäter in Deutschland gesetzlich eingeführt wurde, wie ihn nicht nur die leider so früh verstorbene engagierte Jugend-Juristin Kirsten Heisig (2010) schon lange gefordert hatte, sozusagen als letzte Warnung an Jugendliche, die dabei sind, in eine kriminelle Karriere abzugleiten. Der Warnschuss-Arrest soll zeigen, dass sofort nach einer Straftat eine Reaktion erfolgt, die Strafe sozusagen auf dem Fuße folgt, damit noch ein letzter Lerneffekt möglich ist. (Wobei das Umsetzen dieses Warnschuss-Arrests in die
Weitere Kostenlose Bücher