Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
es nicht. Wir sind echt und keine Stimmen oder angeklebte Fremdkörper. Ich bin keine Täterin. Ich bin kein ,Anteil‘. Ich bin genauso der Mensch ... [der offizielle Name der Gesamtpersönlichkeit] wie alle anderen, die den Körper benutzen und behaupten ‚ich‘ zu sein. Ich bin, ich atme, fühle, lebe, kann denken und habe komplett alles, was ein Mensch hat. Gesehen werde ich aber als ‚reinkopiert‘, ‚nicht echt dazugehörig‘ oder als ‚Nachplapperer‘. Deshalb wollte ich es lieber gar nicht erst lesen und auch nicht mitlesen, wenn es wer anders liest. Nun habe ich aber doch und wollte nur sagen, dass ich finde, Sie geben sich viel Mühe ...“ Und damit hat ein Gespräch per E-Mail zwischen uns begonnen, mit dem die anderen der Gesamtpersönlichkeit einverstanden, ja sogar auf dessen Ergebnis sie neugierig waren und vielleicht immer noch sind. Die anderen sind, wie sie schrieben, „beiseitegetreten“, um zuzulassen, dass wir beide miteinander sprechen können. O. k., Sandra, du schreibst also: „Ich weiß, die Leute meinen uns, wenn sie von Introjekten reden.“ – Wen meinst du mit „uns“?
Sandra: Die anderen sind „beiseitegetreten“? Wenn ich nicht zu faul wäre, mich die ganze Zeit vorne verteidigen zu müssen, hätten sie gar keine Wahl als „beiseite“ zu sein. Und so geht es den anderen [der „Sicherheitspolizei“] auch. Manche sind noch viel mächtiger als ich und die brauchen nicht zu warten, bis jemand „beiseitetritt“. Wir hören diese negativen Zuschreibungen wie „Introjekt“ immer, wenn über uns gesprochen wird oder über etwas, das „die im Inneren sagen oder wollen“. Wir sind die, die zuerst da waren. Wir sind die, die die Wahrheit kennen, weil sie dabei waren. Wir sind die, die sich nicht „beskillen“ lassen, und die, die sich nicht einreden können, dass alles rosa wird, wenn man es nur lange genug imaginiert.
MH: Kannst du etwas darüber sagen, woher du kommst? Wie alt bist du, wie alt ist der Körper? Was glaubst du, wie du entstanden bist bzw. seit wann du „diesen Körper benutzt“?
Sandra: Wieso werden wir das immer gefragt und die anderen [andere Teilpersönlichkeiten, die Opferanteile, die Alltagsperson ...] nie? Wieso ist immer so klar, dass die „Guten“, die, denen man gern gegenübersitzt, weil sie so nett sind und so ressourcig, nirgends „herkommen“, sondern einfach da sind, und dass wir irgendwann „entstanden“ sein müssen? Ich bin 31. Der Körper ist 31. Ich komme aus meiner Mutter, wie jeder Mensch. Ich wurde geboren, habe mein Leben gehabt – etwas zerhackstückelter als andere vielleicht, aber ich bin nicht entstanden, sondern geboren worden. Ich kenne es nicht anders und tue mich immer noch schwer damit zu glauben, dass meine / unsere Persönlichkeit etwas Unnormales sein soll. Ich benutze den Körper seit seiner Geburt. Mal mehr, mal weniger. Es ist nicht nötig, mich komplett einzufühlen oder an etwas zu gewöhnen, denn niemandem von uns gehört dieser Körper oder dieses Leben wirklich. Wir teilen uns das. Schon immer.
MH: Hast du einen Überblick über diejenigen von euch, die du als „uns“ bezeichnet hast? Auch hier gilt: Bitte schreibe nur das auf, was sich für dich o. k. anfühlt.
Sandra: Es gibt uns und die anderen. Die anderen sind die Neuen, die Kinder, die Halbstarken. Die Formwandler können überall sein; zu wem sie gehören weiß ich nicht genau. Vom Gefühl her mehr zu uns bzw. zu bestimmten Instanzen von uns. Wir sind, wie gesagt, die, die zuerst da waren. Wir versuchen gar nicht erst, uns zusammenzuschmelzen, das wäre vollkommen zwecklos. Die anderen sind viel im Kontakt und haben teilweise auch schon Neue wieder „gemacht“, die z. B. in die Therapie gegangen sind und dann versucht haben, ihnen beim Zusammenfinden zu helfen. Wir machen keine Neuen. Wir können die, die da sind, lenken, wenn es drauf ankommt. Wir können „das Ganze“ nach außen rund machen. Wir können glaubhaft als „Frau Blabla“ auftreten, ohne greifbar zu sein.
Wenn Sie mit Überblick meinen, wie viele wir sind: Das weiß ich nicht, es hat mich auch nie interessiert. Auf der Landkarte, die von den anderen gemacht wurde, sind in allen Parallelsystemen insgesamt 74 Leute drauf (manche sind ja eher „Anteile“ von anderen, also das ist nicht so genau zu nehmen) – Große und Kleine. Davon gehört etwa ein Drittel zu uns, ein paar taten es mal, sind aber übergelaufen. Wir wissen, es gibt mehr als da drauf stehen, die sind
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