Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
und Wünsche führen, hängt vielleicht davon ab, wie viel Kriegserfahrungen im engeren und weiteren Sinne wir selbst verarbeitet haben und wie viel Kriegserfahrungen unsere Eltern verkraftet haben. Und wir in Mitteleuropa, und nicht nur hier, sind in einer über Jahrhunderte kriegführenden Gesellschaftsstruktur so gut wie alle von Krieg betroffen: Die Älteren noch persönlich, die Jüngeren als sogenannte „Second“ oder „Third Generation“, als Nachfolgegenerationen, die mit den Folgen der Kriegserfahrung ihrer Eltern bzw. Großeltern heute noch fertig werden müssen. Ein eigenes kleines Beispiel habe ich in Kapitel 4 beigesteuert. Und gerade die Deutschen haben anderen Völkern und überhaupt Andersdenkenden und -fühlenden im letzten Jahrhundert unendliches Leid zugefügt – und ihnen damit unter Umständen über Generationen eine Bürde von Bindungsschäden auferlegt, die weitere Auswirkungen haben können.
Vielleicht wirft die Forschung zu Holocaust-Überlebenden ein Schlaglicht auf das, was Krieg in den privatesten Raum der Familie hineinträgt. Eine der interessanten Studien dazu stammt von Miri Scharf und Ofra Mayseless, Psychologinnen an der Universität Haifa (2011). Sie untersuchten 196 Eltern der zweiten Generation von Überlebenden der Shoah und deren jugendliche Kinder. Folgende Themen übertrugen sich von einer Generation auf die nächste, also auf die dritte:
Betonung von Überlebensthemen (alles ist existenziell, es geht immer „ums Ganze“)
Mangel an emotionalen Ressourcen (sich alleingelassen fühlen)
Zwang, den Eltern zu gefallen und deren Bedürfnisse zu befriedigen
Diese drei Themen spiegeln, so die Autorinnen, die Frustration von drei basalen Bedürfnissen wider: dem Bedürfnis danach, sich kompetent zu fühlen; dem Bedürfnis nach Verbundenheit und dem Bedürfnis nach Autonomie. Dies kann sich für die Betroffenen so anfühlen, als gäbe es keine Sicherheit, als geschähen Dinge auf unverständliche und potenziell überall bedrohliche Weise, was wiederum große Hilflosigkeit und Leid auslöst und sich seinerseits traumatisch auswirken kann. Vermutlich können die Ergebnisse dieser Studie auf sehr viele Nachkriegsgenerationen zutreffen, deren Eltern und Großeltern dem namenlosen Entsetzen von Verfolgung, Vertreibung und potenzieller Vernichtung ausgesetzt waren.
Eine andere israelische Studie (Feldman & Vengrober 2011) hat sich angeschaut, wie 148 heutige Mütter und Kleinkinder in Israel, die in der Nähe des Gaza-Streifens wohnen und täglicher Bedrohung ausgesetzt sind, darauf reagieren. Sie stellten fest, dass fast 38 % der anderthalb- bis fünfjährigen Kinder eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) hatten. Sie spielten die bedrohlichen Situationen immer wieder nach, weinten viel, wachten nachts oft auf und hatten starke Stimmungsschwankungen. Außerdem zogen sie sich von ihren Müttern und aus sozialen Kontakten zurück. Die Mütter dieser Kinder mit PTBS, das fiel den beiden Forscherinnen auf, litten besonders häufig an Depressionen, Angstzuständen und ebenfalls PTBS-Symptomen; gleichzeit hatten sie die geringste soziale Unterstützung. Während die Kinder, die keine PTBS entwickelt hatten, sich immer wieder ihrer Mütter versichern konnten, vermieden die PTBS-Kinder eher die mütterlichen Kontakte. Statistisch bedeutsam war folgender Befund: Ein Kontakt vermeidendes Kind hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit PTBS und eine Mutter, die selbst traumatische Erfahrungen gemacht und PTBS-Symptome hatte. Schlussfolgerung der Autorinnen: „Wenn ein Kind den Kontakt zur Mutter vermeidet, signaliert dies, dass das Kind in großer Gefahr ist“, nämlich Bindungsstörungen und eine Posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln. Daher sollte man in schwierigen Lebenslagen vor allem die Mütter stärken, damit es ihnen unter den gegebenen stressreichen Umständen so gut wie möglich geht, sie sich sensibel ihren Kindern gegenüber verhalten und soziale Unterstützung anfragen und bekommen können.
Es gibt zahlreiche Studien, die darauf hinweisen, dass früh traumatisierten Kindern am besten geholfen werden kann, wenn auch die Mütter gestärkt werden; das scheint ganz besonders für die Kinder zu gelten, die zahlreichen Traumatisierungen ausgesetzt waren (Ippen, Harris, Van Horn & Lieberman 2011). Und am besten beginnt man schon bei Schwangeren, die selbst von Bindungspersonen traumatisiert wurden. Sonst haben sie ein hohes Risiko, nur schwer eine sichere Bindung zu ihrem
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