Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
innerlich häufig abwesende Mutter und weitere Menschen, die Macht über das Kind hatten. Wobei sowohl der Vater als auch die Mutter mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst entsprechende Erfahrungen in ihrer Herkunftsfamilie gemacht haben bzw. durch weitere Traumatisierungen: Kriegserfahrung, Flucht und Vertreibung, Verlust von wichtigen Bindungspersonen, Unfälle, Fehlgeburten, Vergewaltigungen etc. All das führte dazu, dass sie nicht (mehr) in der Lage waren, ihrem Kind ein sicheres Bindungsangebot zu machen.
Toxischer Stress, also traumatische Erfahrungen, etwa Bindungstraumatisierungen, scheinen sich nicht nur unmittelbar schädlich auszuwirken. Sondern sie scheinen auch die „Ein-Schalter“ mancher Gene auf „Aus“ zu stellen, und zwar so, dass diese ausgeschalteten Gene an die nächste Generation weitergegeben werden können, wenn keine ausreichende Verarbeitung der Erfahrung, etwa durch eine Psychotherapie, erfolgt. Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer sagt dazu: „Individuen, die frühes Leid, Vernachlässigung oder Traumatisierungen erlitten haben, werden davon einen biologischen Fingerabdruck zurückbehalten, der ihr eigenes Verhalten beeinflusst. Indem sie einen Teil der selbst erlittenen Erfahrungen nicht durch ihre Gene, sondern durch ihr verändertes Verhalten an ihre eigenen Kinder weitergeben, erzeugen sie bei diesen ähnliche epigenetische Muster“ (2006, S. 170 f.).
Dieser Weitergabeprozess scheint nicht nur frühe Traumatisierungen zu betreffen, sondern auch spätere. Dies wurde z. B. bei schwangeren Frauen untersucht, die während der Schwangerschaft traumatische Erfahrungen machten: „Wenn Schwangere von ihren Partnern misshandelt werden, verändert sich bei ihren Kindern dauerhaft das Gen für sogenannte Glucocorticoid-Rezeptoren, jene molekularen Sensoren, die Stresshormone wie Cortisol erkennen und wie eine Schaltstation weitere Reaktionen des Gehirns vermitteln“, fasst der Spiegel (2012, Nr. 25, S. 127) entsprechende Studien zusammen und zitiert den Konstanzer Forscher Thomas Elbert: „Der Körper der Mutter signalisiert diesen Kindern, dass sie in einer bedrohlichen Umwelt aufwachsen .., im späteren Leben sind diese Kinder ängstlicher und weniger neugierig, ihre Stressachse ist anfälliger als die anderer Menschen.“ Weitere Studien, etwa von Catherine Monk von der New Yorker Columbia University (Monk, Fitelson & Werner 2011, Monk, Newport et al. 2012) belegten, so der Spiegel weiter, dass bei allen schwangeren Frauen, die unter Stress gesetzt wurden, ihr Blutdruck sowie die Atem- und Herzfrequenz in die Höhe schossen. „Doch nur bei jenen Frauen, die eine unbehandelte Depression, oft in Verbindung mit einer Angststörung, hatten, klopfte auch das Babyherz schneller. ‚Diese Feten sind offenbar schon im Mutterleib stressempfindlicher als andere‘, erläutert Monk. Das Muster setzt sich fort: Nach der Geburt sind die Babys nervöser und lassen sich weniger leicht beruhigen als ihre Artgenossen“ (ebd., S. 128). Catherine Monk ist dabei, eine Langzeitstudie über Teenager-Schwangerschaften durchzuführen, da diese jungen Mütter besonders unter Stress stehen.
Was diese bislang noch isolierten Studien zu epigenetischen Auswirkungen von Stress andeuten: Schwierige Lebenserfahrungen werden nicht nur durch Modell-Lernen weitergegeben, sondern verändern auch die Funktionsweise unseres Erbgutes – und werden von einer Generation zur anderen „fortgepflanzt“. (Im Literaturverzeichnis finden Sie weitere Studien dazu.)
In Hunderten von Gesprächen mit hoch dissoziativen KlientInnen habe ich mich mit dem „Feind im Innern“ unterhalten. Und es liegt mir, je länger ich diese Arbeit mache, zunehmend fern, ihn oder sie in irgendeiner Weise „austreiben“ zu wollen, von schlimmeren, noch gewalttätigeren Handlungen ganz zu schweigen. Im Gegenteil: Diese Anteile der Persönlichkeit zu verstehen, zu studieren, ihnen Respekt zu zollen und sie in der therapeutischen Arbeit herbeizubitten, bevor man sie einlädt, dann auch ihre Gedankenwelt zu überprüfen und ihre Impulse in solche zu verwandeln, die der Gesamtpersönlichkeit mehr nutzen als schaden – dies gehört meinem Verständnis nach zu den Kernaufgaben jeder Traumatherapie.
10.4 Welche Funktion hat ein Täterintrojekt?
Eine der wichtigsten Fragen, die wir uns stellen sollten, ist: Wozu sind diese inneren Abbilder der äußeren TäterInnen da, die dann im Innern einer Persönlichkeit ein Eigenleben entwickeln? Welchen
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