Der Feind im Spiegel
Per! Sie hat hundertmal angerufen. Du sollst zurückrufen. Und zwar sofort!«
Toftlund schaute Vuldom hinterher, die im Gebäude verschwand, und klappte sein Handy auf. Er ließ den Motor laufen. Kaum hatte er Empfang, teilten ihm alle möglichen Kurznachrichten mit, daß er eine Vielzahl von Anrufen in seiner Mailbox hatte. Er ignorierte sie. Es mußte irgendwas mit Freya sein. Es war ihr etwas passiert. Sein Herz hämmerte. Was war seinem kleinen Töchterchen widerfahren? Er dachte an einen Verkehrsunfall, eine Gewalttat, sexuellen Mißbrauch, Entführung, einen unglücklichen Sturz im Kindergarten und wählte währenddessen Lises Handynummer. Sie antwortete auf der Stelle.
»Per! Ich hab ihn gesehen. Ich hab ihn gesehen. Er ist in Dänemark. In Kopenhagen. Er ist nicht tot!«
Seine Erleichterung ließ sich nicht in Worte fassen. Es ging nicht um Freya. Es war, als spülte ein warmer Strom durch seine Adern. Er bekam kaum mehr mit, daß Lise pausenlos ihre sinnlose Aussage wiederholte, daß er wieder in Dänemark sei und sie ihn gesehen habe. Vom wem faselte sie da eigentlich, Herrgott? Er versuchte sie zu trösten und machte beruhigende Geräusche ins Telefon, als wäre es Freya, die ihren Teddy nicht fand, bis Lise mit ihrem Gestammel endlich aufhörte und ihr hysterisches Weinen ein wenig abebbte.
Dann fragte er: »Wo bist du denn, Lise?«
»Zu Hause«, schniefte sie. »Ich hab so oft probiert, dich zu erreichen. Warum gehst du nicht ran, Mensch?«
»Alles in Ordnung?«
»Nein, du Idiot. Nichts ist in Ordnung!«
»Warum nicht?«
»Weil ich ihn gesehen hab! Im Magasin. «
» Wen hast du gesehen?«
»Du Blödmann! Janos natürlich! Den serbischen Dänen. Den Mistkerl. Den Mörder. Kapierst du denn nicht, was ich dir sage?«
»Das ist unmöglich.«
»Ich hab ihn gesehen.«
»Er ist tot.«
Er hörte, daß sie wieder anfing zu weinen.
»Lise …«
»Ich hab ihn wirklich gesehen, Per. Wie sollte ich den je vergessen können, kannst du mir das sagen?«
»Das ist unvorstellbar.«
Das Schluchzen wurde lauter. »Per! Ich hab ihn gesehen. Mit eigenen Augen. Auf der Rolltreppe. Er hat mich auch gesehen. Ich hab solche Angst. Kannst du nicht kommen? Bitte!«
»Wo bist du?«
»Zu Hause. Hab ich doch schon gesagt. Ich habe die ganze Zeit versucht, dich anzurufen. Ich bin in Ohnmacht gefallen, und sie haben mich im Taxi nach Hause geschickt. Kannst du nicht kommen, Per? Ich hab solche Angst!«
25
Toftlund befestigte das Blaulicht auf dem Autodach und raste los. Es war Hauptverkehrszeit, aber die anderen Autofahrer machten ihm Platz. Sie waren guter Laune. Dänische Verkehrsteilnehmer richten sich nach dem Wetter. Sie können rücksichtslos und aggressiv sein wie ein schneidender Ostwind oder sanft und großzügig wie heute. Die Sonne schien, die Ferien hatten begonnen. Er kam gut vorwärts. Der Verkehr war lange nicht so dicht wie sonst. Trotzdem erschien es ihm wie eine Ewigkeit.
Sie saß im Wohnzimmer und hatte sich in eine Decke gehüllt, vor ihr stand unberührt eine Tasse Tee. Sie war leichenblaß.
»Hallo Per. Wo ist Freya?« sagte sie überraschend ruhig.
»Freya? Weiß ich doch nicht. Sie ist doch bei dir.«
»Dann ist sie noch im Kindergarten. Ich habe vergessen, sie abzuholen.«
Lises Stimme war leise und gefaßt, aber ihr Blick war verschleiert und teilnahmslos, sie sah ihn nicht an, sie starrte auf das abstrakte Gemälde an der Wand gegenüber.
»Bleib hier, Lise. Ich gehe sie holen.«
»Ich hab ihn gesehen, Per.«
»Ich weiß, aber jetzt hole ich erst mal Freya, okay?«
»Ich hab ihn gesehen. Er war es.«
Sie fing wieder an zu schluchzen. Wie am Telefon.
»Schon gut, Lise. Erst mal Freya, ja?«
»Ich hab ihn gesehen.«
»Jetzt erst mal Freya. Wir sind gleich wieder da, okay. Kannst du so lange allein sein?«
Sie nickte, ohne ihn anzusehen. Einen kurzen Moment lang überlegte er, sie in den Arm zu nehmen. Dann ging er schnell hinaus. Der Kindergarten lag nur zwei Autominuten entfernt, und Freya freute sich riesig, ihn zu sehen. Die Erzieher wollten ihm noch dies und jenes über sie berichten, und Freya selbst brabbelte wie ein Wasserfall, aber er entführte sie rasch aus dem allgemeinen Durcheinander und dankte Gott, daß es Sommer war und sie keinen Mantel anziehen mußte, denn es wieselten schon etliche Mütter und Väter um ihn herum, die nur zu gerne die eine oder andere Einzelheit aus seinem Leben erfahren hätten, nun, wo er schon mal da war. Kam ja selten genug vor. Per
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