Der Feind im Spiegel
dem Hähnchen und halfen einander, einen großen Topf mit Wasser zu füllen und Salz hineinzustreuen. Er holte Teller und Besteck, und Freya deckte den Tisch. Dann kam sie zurück und stellte sich wieder auf ihren Kinderstuhl. Sie kommentierte alles, was sie gerade machte. Sie ließen sie plappern.
Lise seufzte, sah zu ihnen hinüber und erzählte weiter.
»Ich fuhr hoch. Und er fuhr runter. Ich habe ihm genau in die Augen gesehen, und er hat mich mit diesem kalten blauen Blick angestarrt, den ich nie vergessen werde. Er war es, Per!«
»Wieso können Augen kalt sein, Papa?« Freya berührte vorsichtig ihre Augen mit den Fingerspitzen. »Meine sind nicht kalt. Sie sind warm wie meine Haut.«
»Das sagt man nur so, Spätzchen.«
»Dann hat Henriette kalte Augen. Denn die ist richtig dumm.«
»Das glaube ich gerne.«
»Ja, das ist sie. Richtig dumm.«
»Er war es, Per.«
»Okay.«
Freya gab Schinkenstreifen und die enthülsten Erbsen in die Pfanne und goß einen Schuß Sahne dazu. Den Deckel ließen sie weg, die Soße sollte noch etwas einkochen. Dann schütteten sie die frischen Fettuccine in das kochende Wasser. Per hob Freya hoch, trug sie zum Tisch und setzte sie auf ihren Kinderstuhl. Er schüttete die Fettuccine in ein Sieb, spülte sie kurz unter kaltem Wasser ab, gab sie in eine Schüssel und wendete sie in etwas Soße. Dann stellte er sie auf den Tisch, dazu ein Stück Parmesan und eine Reibe, den Tomatensalat und für Freya einen Becher Milch. Er tat ihnen auf, goß Lise nach und schenkte sich selber ein Glas ein.
»Manchmal spielt einem die Phantasie einen Streich, Lise. Vielleicht hast du in letzter Zeit nicht so gut geschlafen.«
»Es schmeckt wirklich gut. Wie immer. Nein, ich habe tatsächlich nicht besonders gut geschlafen in letzter Zeit, aber ich weiß, was ich gesehen habe. Es war nicht meine Phantasie.«
»Mir schmeckt’s auch, Papa. Wir können gut zusammen kochen.«
»O ja. Du bist sehr tüchtig.«
»Bleibst du noch und liest mir was vor?«
»Na, sicher doch.«
»Ich möchte Alfons Åberg hören.«
»Wie du willst.«
»Zwei Geschichten.«
»Abgemacht.«
Lise lächelte und legte ihre Hand auf Pers. Sie stocherte im Essen herum, aber ein bißchen aß sie zumindest.
»Ich werde der Sache nachgehen, Lise.«
»Und wie?«
»Wie spät war es, als du … ihn gesehen hast?«
»Kurz nach drei.«
»Ich schaue mir die Bänder von den Überwachungskameras an.«
»Es handelt sich um höchstens vier, fünf Sekunden.«
»Wieso?«
»Du bummelst ja nie durch die Läden. Du kennst das Magasin nicht richtig. Die Rolltreppen führen nebeneinander hoch und runter, und es sind nur ungefähr drei, vier Sekunden, in denen man die Leute auf der anderen Seite sehen kann. Er hat den Kopf in meine Richtung gedreht, und ich habe ihn gesehen. Das dauerte nur einen Augenblick, aber es hat gereicht.«
»Das heißt, du hast ihn nicht länger ansehen können. Du hast ihm nicht von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden?«
Lise nahm einen Schluck Wein und sagte: »Du glaubst mir nicht, was?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Nein, aber wenn du mir glauben würdest, dann wärst du schon im Magasin oder hättest deine Leute schon ausrücken lassen mit Blaulicht und Sirene und allem, was dazugehört.«
»Mir fällt es schwer, dir zu glauben. Das muß ich zugeben. Der Mann wurde für tot erklärt. Das ist in die ganze Welt hinaus geschickt worden. In allen Ländern der Erde wurde nach ihm gefahndet. Der Fall ist eingestellt. Es gibt keine Auferstehung von den Toten.«
»Wahrscheinlich nicht. Vielleicht bin ich nur überarbeitet. Im Augenblick ist alles nicht so leicht für mich.«
Ihre Wangen zeigten wieder ein wenig Farbe. Sie drückte ihm kurz die Hand und zog dann ihre schnell wieder zurück. Sie nahm noch etwas von der Pasta und half Freya, die mit den langen Dingern ihre Schwierigkeiten hatte. Aber die Kleine mußte immer erst überredet werden, ehe man ihre Nudeln kleinschneiden durfte. Sie wollte alles selber machen.
»Ich klemme mich dahinter, Lise.«
»Schon in Ordnung. Ich habe nur so furchtbare Angst bekommen. Auf einmal kam das alles wieder.«
»Das verstehe ich gut.«
Sie ergriff erneut seine Hand. »Kannst du nicht heute nacht hierbleiben?«
Er sah sie an. Ihre Augen waren ein wenig feucht. Sie war zerbrechlich wie Glas, dachte er.
»Ich habe keine Zahnbürste dabei«, sagte er.
Sie mußte lächeln.
»Das macht nichts«, sagte sie. »Ich habe noch eine. Du sollst mir nur die
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