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Der Feind im Spiegel

Der Feind im Spiegel

Titel: Der Feind im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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nicht. Wie sollte sie Per erklären, daß die jungen Typen sie deshalb als Hure bezeichnet hatten? Nicht nur weil sie mit einem Dänen ging, sondern auch weil sie ihn in aller Öffentlichkeit anfaßte. In Italien konnte sie das machen, weil sie in vielem einer Italienerin ähnelte, aber nicht in Dänemark. Per nahm sie schlicht, wie sie war. Eine wie alle anderen auch. Er hatte keine Ahnung, daß sie im Bekanntenkreis ihrer Eltern hier und da als Ausgestoßene galt, obwohl sie es hatte durchblicken lassen. Aber er mußte es auch nicht wissen.
    Aber es hatte sich gelohnt, daß sie ihr Studium der Politologie mit dem Diplom abgeschlossen hatte. Es war eine akademische Ausbildung, die auf Vernunft und Wirtschaftstheorien aufbaute und nicht auf Glauben und Aberglauben und den überkommenen Traditionen einer untergegangenen Nomadengesellschaft. Aber woher kamen dann ihre nächtlichen Ängste? Warum konnte sich ein Mensch nicht ohne weiteres von seiner Kindheit und der Prägung befreien, die er so mühsam mit sich herumschleppte? Daran dachte sie oft, ob sie wollte oder nicht. Immer gab es mehr Fragen als Antworten. Und die Gedanken verliefen oft im Kreis. Sie betrachtete sich selbst als eine moderne Frau. Aber manchmal, des Nachts, hatte sie die Befürchtung, daß genau da der Hase im Pfeffer lag: daß ihre Auffassung von sich selbst nur eine Konstruktion war. Im Grunde war sie noch immer ein verschrecktes kleines Mädchen, das den Zorn des Vaters und des Imams fürchtete. Das die Stunde der Rechenschaft am Jüngsten Tag fürchtete, wenn es mit den anderen Sündern dastünde und genau wüßte, daß sein Weg schnurstracks in die schlimmsten Kammern der Hölle führte. Dann fing sie an auf arabisch zu denken und zu träumen, während sie im wachen Zustand immer auf dänisch dachte. Das hatte sie sich frühzeitig angewöhnt, mittlerweile war das ganz natürlich für sie. Aber das Unbewußte ihrer einsamen Nächte konnte sie nicht steuern.
    Sie schüttelte die Gedanken ab und nahm die International Herald Tribune aus der Tasche des Vordersitzes. Sie entfaltete sie vorsichtig, um Per nicht zu wecken, und schaute auf die erste Seite. Aufmacher war ein Artikel über ein weiteres Selbstmordattentat in dem armen, gequälten Palästina, in dem ihre Wurzeln lagen und immer liegen würden. Sie las den Artikel und sah sich vor allem das dazugehörige Foto an.
    Es war ein junges Gesicht, und der Artikel teilte mit, daß Reem fünfundzwanzig Jahre alt gewesen war und gerade als Anwältin angefangen hatte. Sie war eine moderne jüngere Palästinenserin mit vielversprechender Zukunft gewesen. Ihr Vater sagte, sie sei glücklich gewesen. Glücklich? Und jetzt starb sie gemeinsam mit neunzehn anderen Menschen. Vierzehn Juden, davon fünf Kindern, und fünf christlichen Arabern. Aischa schnürte es das Herz zusammen. Die Geschichte war so furchtbar alltäglich und trotzdem von tragischer Besonderheit, weil durch die sinnlose Tat so viele Menschen ihr Leben gelassen hatten. Reem war sogar privilegiert gewesen, als einziges von sieben Kindern hatte sie studiert. Man kannte sie als normale junge Frau, in Jeans und unverschleiert. Bis sie sich vor einigen Monaten in ein fußlanges weites Gewand hüllte und ein Kopftuch umband, das Haare und Hals bedeckte.
    Aischa betrachtete noch einmal das Bild der jungen Frau, und beim Gedanken an die weggeworfenen Menschenleben stiegen ihr Tränen in die Augen. Reem hatte ein hübsches, aber nicht ungewöhnliches Gesicht, das von einem schwarzen Kopftuch über einem weißen Hemdkragen eingerahmt war. Die Haut auf dem Schwarzweißfoto wirkte hell, beinahe durchsichtig, und Reem benutzte offensichtlich Make-up und zupfte sich die Augenbrauen. Man konnte sich durchaus vorstellen, daß sie sich die sinnlichen Lippen rot schminkte. Was hatte sie zu dieser sinnlosen Tat getrieben? Haß? Der Glaube an das Martyrium? Oder beides? Oder der Zufall? Wenn Aischa unter israelischer Besatzung auf der West Bank oder im Gazastreifen aufgewachsen wäre, wäre sie dann eine andere geworden? Hätte sie sich dann auch eines sonnigen Nachmittags einen Sprengstoffgürtel um den Leib gebunden, wäre in ein volles Restaurant gegangen und hätte die Bomben gezündet, die sie und viele andere in Stücke sprengen sollten?
    Sie konnte die Frage nicht eindeutig beantworten. Sie saß im Flugzeug neben dem schlafenden Toftlund und dachte, daß sie ihrem Vater dankbar sein sollte, weil er rechtzeitig ausgereist war und sie und ihre Mutter

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