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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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aber nichts erkennen.
    Dann wachte ich auf. Mein vergeblicher Versuch, im Traum meine Sachen zu packen, war so ziemlich das Produktivste, was ich an diesem Tag zustande gebracht hatte.

    Neben dem Bett stand eine Tasse kalter Tee. Ich konnte mich vage daran erinnern, dass Charlie ihn mir vor Stunden gebracht hatte. Ich hatte vorgehabt aufzustehen und aktiv zu werden, es aber nicht geschafft. Dabei fühlte ich mich gar nicht so schlecht wie erwartet. Ich war nicht richtig krank. Allerdings hatte ich einen widerlichen Geschmack im Mund, und meine Haut fühlte sich ein wenig heiß an, was bei mir Anzeichen für eine nahende Grippe sind. Ich schaffte es einfach nicht aufzustehen. Vielleicht brauchte ich nur ein bisschen mehr Zeit. Während ich so dalag, stellte ich weitere Symptome fest. Mein Brustraum schmerzte, und das Atmen fiel mir schwer, als gäbe es zu wenig Sauerstoff im Raum. Mit einem plötzlichen Gefühl von Panik rang ich nach Luft, so als wären meine Lungen zu klein für die Luftmenge, die ich brauchte. So ähnlich musste es sein, wenn man ertrank, verzweifelt die Luft anhielt, sich vor Atemnot krümmte und schließlich doch keine andere Wahl hatte, als das Wasser in seine Lunge zu saugen. Einen Moment lang keuchte und hustete ich, dann bekam ich wieder Luft.
    Ich nahm einen Schluck von dem kalten Tee und zog mir anschließend die Decke über den Kopf. Hatte ich davon nicht schon seit Tagen geträumt? Mich unter meiner Bettdecke zu verkriechen, wo ich mich sicher und geborgen fühlen konnte?
    Meine Haut war klamm, und ich zitterte. Ich wollte mich noch fester in die Decke wickeln, musste jedoch feststellen, dass sie unter dem Bezug mal wieder völlig verdreht war. Mit diesem Problem kämpften wir schon seit Monaten. Wir hatten aus Versehen ein Bett gekauft, das zu klein war für unsere Bezüge, sodass es darin herumrutschte wie eine Erbse in einer zu großen Hülse. Das hatte zur Folge, dass es Stellen gab, die zwar aussahen wie eine Bettdecke, aber nicht wärmten, weil sie nur aus Bezug bestanden. Noch schlimmer war, dass sich das Innenleben in dem Bezug ständig verdrehte. Im Moment war es gerade besonders extrem. Frustriert zerrte ich am Saum des Bettbezugs. Am liebsten hätte ich das ganze Bett in kleine Stücke gerissen und angezündet, damit es mich nie wieder derart zur Weißglut bringen konnte, aber stattdessen wickelte ich es bloß so fest wie möglich um meinen Körper.
    Wenn ich sonst im Bett liege und nicht schlafe, nutze ich die Zeit, um Pläne zu machen, aber an diesem Samstag wollte mein Gehirn einfach nicht richtig funktionieren. Die Art, wie ich immer wieder über bestimmte Dinge nachdachte, erschien mir sehr unproduktiv. Als ich etwa zwölf Jahre alt war, aß ich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben Artischocken. Der Großteil meiner Erinnerungen an Familienessen während meiner Kindheit sind ziemlich absurder Natur. Oft lag mein Vater irgendwo in einem abgedunkelten Raum, roch seltsam medizinisch und war »krank«. Später verschwand er dann ganz. Bei der speziellen Gelegenheit war er nicht anwesend, und es gab jenes seltsame Gemüse, das meine Mutter vom Markt mitgebracht hatte. Ich war so aufgeregt wegen meiner Artischocke und der ganzen Prozedur, sie abzuzupfen und in geschmolzene Butter zu tauchen, dass ich viel zu schnell und zu viel aß. Ich weiß noch, wie ich zum Schluss die letzten Reste von den Blättern nagte. In der Nacht wachte ich auf und musste mich mehrfach übergeben. Meine Mutter leistete mir Beistand, legte immer wieder ihre kühle Hand auf meine heiße Stirn. Ich fragte sie, ob ich sterben müsse. Seltsamerweise kann ich mich an ihre Antwort sehr genau erinnern. Sie sagte nicht »Nein«, wie es jede normale Mutter getan hätte, sondern: »Natürlich, Holly, wir müssen alle mal sterben. Aber bis dahin hast du noch eine Menge Zeit.« Darüber habe ich später noch oft gelacht.
    Seit jener schrecklichen Mahlzeit, die mir so wundervoll erschien, während ich sie zu mir nahm, verursacht mir allein schon der Gedanke an Artischocken ein flaues Gefühl. Wenn ich in einem Geschäft eine entdecke, schwappt eine Welle der Übelkeit durch meinen Körper. Als ich nun die Ereignisse der letzten Wochen erneut im Geiste durchging, war es, als würde ich meine Arme in etwas Ekliges, Stinkendes, langsam vor sich Hinfaulendes tauchen. Während ich, eingehüllt in eine nutzlose Bettdecke, vor Kälte zitternd dalag, kam es mir vor, als hätte ich jene Artischocke ein weiteres Mal zu

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