Der Feind in deiner Nähe
spitze kleine Halb-monde in meine Haut bohren, eine andere, dass ich die Nagelschere nie finden kann, wenn ich sie brauche. Ich brüllte zu Charlie hinunter, dass ich eine neue Nagelschere kaufen würde, die nur ich allein benutzen durfte. Er gab mir keine Antwort. Am Ringfinger hatte ich einen besonders langen, rauen Nagel, mit dem ich ständig an meinen Klamotten hängen blieb.
Ich biss daran herum, bis er einriss, und zog ihn dann seitlich weg. Natürlich erwischte ich den falschen Winkel, sodass der Nagel viel zu weit unten abbrach, was höllisch wehtat und außerdem ein Stück des Nagelbetts freilegte, das sofort zu bluten begann. Hinzu kam, dass es fürchterlich aussah. Ich war gezwungen, auf der anderen Seite auch noch ein Stück abzubei-
ßen, damit es einigermaßen gleichmäßig wirkte. Nun würde der Nagel mindestens zwei Wochen brauchen, bis er so weit nachgewachsen war, dass ich ihn das nächste Mal schneiden konnte.
Charlie – oder Gott – hatte die Nagelschere irgendwo versteckt, und ab da wurde es nur noch schlimmer. Nachdem ich nicht vorhatte, an diesem Tag das Haus zu verlassen, hielt ich es auch nicht für nötig, mich richtig anzuziehen. Ich schlüpfte lediglich in irgendein Sweatshirt und eine der alte Jogginghosen, die man in der Taille mit einer Kordel zusammenhielt. Während ich am einen Ende anzog, verschwand das andere im Loch am Bund. Entnervt stöhnte ich auf. Ich versuchte, das fransige Ende der Kordel aus dem Loch herauszubekommen, aber es war schon zu weit hineingerutscht. Als Nächstes probierte ich, den Bund zusammenzuschieben, um die Kordel auf diese Weise zurück in Richtung Loch zu befördern, aber das funktionierte auch nicht. Ich konnte die Kordel zwar spüren, kam aber nicht an sie ran. Irgendwann hatte man mir mal beigebracht, wie man mit einer solchen Krise fertig wurde: Man brauchte dazu lediglich eine Nadel, eine ruhige Hand und ein bisschen Geduld.
Leider verfügte ich weder über das eine noch das andere. Ich spürte, wie die Wut in mir aufstieg. Wahrscheinlich würde mich gleich der Schlag treffen. Die Welt der unbelebten Materie hatte sich offenbar gegen mich verschworen: die Bettdecke, die Nagelschere, die Jogginghose. Ich zog die Hose wieder aus, riss zornig daran herum und schleuderte sie dann in eine Ecke.
Völlig entnervt kauerte ich mich auf den Boden und umfasste mit beiden Händen meinen Kopf.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
»Charlie?«, murmelte ich.
»Was ist los? Was hast du?«
»Ich habe letzte Nacht so schlecht geschlafen.«
»Ich weiß«, sagte er. »Du hast im Schlaf geredet.«
»Was habe ich gesagt?«, fragte ich erschrocken.
»Bloß unverständliches Zeug«, antwortete er. »Möchtest du etwas essen?«
»Ich hab eigentlich gar keinen Hunger.«
»Was ist mit deinem Finger passiert?«
Ich blickte auf meinen Ringfinger hinunter. Die Fingerspitze war mit einer Kruste aus dunklem, angetrocknetem Blut bedeckt. »Ich habe nur den Nagel eingerissen«, erwiderte ich.
»Zieh dich trotzdem an. Wir könnten einen Spaziergang machen.«
»Ich möchte erst noch in die Badewanne.«
»Warst du nicht gerade unter der Dusche?«
»Mir ist kalt. Ich muss mich aufwärmen.«
Charlie musterte mich prüfend. Sein Blick erinnerte mich an die Art, wie man manchmal Leute ansieht, deren seltsames Verhalten einen plötzlich erkennen lässt, dass sie betrunken sind. »Soll ich dir was ins Bad bringen?«, fragte er. »Kaffee?
Einen Keks?«
»Danke, nicht nötig. Ich werde auch nicht lange brauchen.«
In der Badewanne kaute ich alle meine Nägel auf eine akzep-table Länge herunter. Dieses Mal stellte ich mich ein wenig geschickter an, sodass es ohne weitere Blutverluste abging. Ich weiß nicht, wie lange ich in der Wanne blieb, auf jeden Fall ließ ich mehrmals heißes Wasser nachlaufen, bis sich schließlich keines mehr in der Leitung befand. Hinterher bereitete es mir Mühe, mich anzuziehen. Zu entscheiden, was ich tragen wollte, und dann auch noch hineinzuschlüpfen, erschien mir unglaublich anstrengend. Mir wurde allein schon bei dem Gedanken schwindlig, eine trockene Jeans über meine feuchte Haut ziehen zu müssen. Ich legte mich aufs Bett und schlief ein. Jedes Mal, wenn ich aufwachte, fühlte ich mich noch erschöpfter. Ich legte einen Arm über die Augen, weil mich das Licht blendete.
Später, ich weiß nicht, wie viel später, hörte ich eine Stimme.
Megs Stimme.
»Warum weinst du denn so?«, fragte sie.
Als ich die Augen
Weitere Kostenlose Bücher