Der Feind meines Vaters - Roman
was Sie heute aufhängen könnten?«
»Nein«, erwiderte sie ernst, als hätte sie mit der Frage gerechnet und seit langem eine Antwort parat. »Ihr wisst genau, dass ich nur noch Schwarz trage.«
»Ich will Ihnen was sagen …«
Doch er sagte nichts, weil Sanchís ihn am Arm nahm und zwang weiterzugehen. Als ich ihn sah, wusste ich, dass etwas sehr Ernstes passiert sein musste, und glaubte, ich würde es nie erfahren, doch als wir auf die Kommunion warteten, drängelte sich Paquito hinter mich und murmelte: »Du hast ja keine Ahnung, was du gestern verpasst hast, Knirps.« Ich fragte ihn, ob er in Martos gewesen sei, und er sagte ja, mit seinen Eltern und seinen beiden Brüdern. Alles andere erzählte er mir abends auf der Kirmes.
»Als wir alle da waren, mein Vater, deiner und die anderen Kollegen der Guardia Civil in Reih und Glied, meine Mutter und wir nicht weit entfernt, in der ersten Reihe, fuhr ein Lastwagen vor und ließ Crispíns Leiche mitten auf den Dorfplatz fallen. Nur schade, dass wir nicht nach Castillo de Locubín beordert wurden, denn dort haben sie dasselbe mit Cencerro gemacht. Übrigens, der Oberst der Guardia Civil hat meinem Vater erzählt, er wäre hellblond gewesen, ja, hätte aber nicht besonders gut ausgesehen, ein kleiner gewöhnlicher Mann, um die fünfzig. Da kannst du sehen, wie weit man Frauen trauen kann. Ihn hätte ich mir viel lieber angesehen, aber zu blöd, wir mussten ja nach Martos zu Crispín. Jedenfalls, als die Leiche am Boden lag, gab der Oberst ein Zeichen mit dem Kopf, und dann spielte die Kapelle einen Paso doble nach dem anderen, stell dir das vor! Die Leute kamen aus den Häusern und tanzten um die Leiche des Banditen herum, Frauen, Kinder, wir nicht, weil meine Mutter es nicht erlaubt hat, warum weiß ich nicht, sie hielt es wohl für unschicklich, solange Vater noch da stand, in der Sonne, keine Ahnung. Ein Kerl mit Requeté-Uniform ist beim Tanzen auf die Leiche gestiegen, um den Rhythmus anzugeben, das war vielleicht lustig! Aber dann ist plötzlich ein Mann in der Uniform eines Hauptmanns des Heeres aufgetaucht, hat mit den Armen gefuchtelt und der Kapelle befohlen aufzuhören. Er hat so laut geschrien, dass der Dirigent schließlich gehorchte. Der Oberst war natürlich außer sich vor Wut, denn der andere hatte in Martos nichts zu sagen, auch wenn er Hauptmann beim Heer war. Obendrein war er nicht einmal im Dienst, er hatte Urlaub, und als der Oberst auf ihn zuging, meinte der Vollidiot tatsächlich, das Ganze wäre ein unwürdiges Spektakel, wir wären alle Feiglinge und er ließe nicht zu, dass wir uns auf diese Weise amüsierten. Sie haben sich angeschrien, und danach war der Spaß zu Ende. Den Hauptmann haben sie verhaftet und abgeführt, klar, aber als die Kapelle weiterspielte, war es nicht mehr dasselbe. Der Kerl wird sein blaues Wunder erleben, meint mein Vater. Hat er doch allen Ernstes dem Oberst der Guardia Civil erklärt, sie sollten Ehrfurcht vor der Leiche des Banditen haben, sie hätten es ja nicht mal selbst geschafft, ihn umzulegen! Sie werden ihn aus der Armee entlassen, mindestens. Der Feldwebel meint, man würde ihn wahrscheinlich sogar ins Gefängnis stecken. Nicht zu fassen, aber offensichtlich gibt es noch immer überall Rote …«
In jener Nacht brannten Tränen in meinen Augen, weil auch ich es nicht fertigbrachte, Paquito zu widersprechen, so wie ich es nie fertigbrachte, Vater dafür zu danken, dass er uns dieses Schauspiel erspart hatte. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass die Veranstaltung von Castillo de Locubín ein ehrenhafteres, vorbildliches Ende gehabt hatte. Es besaß eine gewisse tragische Würde und entsprach dem Mythos, der Leben und Tod eines gewöhnlichen Menschen geprägt hatte. Die zwei älteren Töchter von Tomás Villén Roldán, Rafaela, zwanzig, und Virtudes, siebzehn, hoben außerhalb der Mauern des Friedhofs eigenhändig das Grab für ihren Vater aus, und zwar in dem Teil, wo jene lagen, die gehängt worden waren oder sich aufgehängt hatten. Zuvor hatten sie ihn gewaschen, zum Abschied geküsst und in ein weißes Laken gehüllt, das ihnen eine Nachbarin gegeben hatte. Sie schütteten das Grab mit Erde zu, schmückten es mit ein paar Wildblumen und gingen anschließend eng umschlungen nach Hause, vorbei an dem Priester, der sie die ganze Zeit mit verschränkten Armen beobachtet und nur auf die Gelegenheit gewartet hatte, ihnen die Nutzung des Familiengrabes zu verbieten. Die vielen neugierigen Dorfbewohner
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