Der Feind meines Vaters - Roman
eingehen, sondern weil sie überzeugt sind, dass es sich lohnt, solche Risiken auf sich zu nehmen. Und du?«
Wieder hielt er inne und sah mich an, so aufmerksam, so intensiv, wie mich noch niemand angeblickt hatte, doch ich antwortete nicht, weil ich das Gefühl hatte, dass er mir selbst eine Antwort auf all seine Fragen geben würde.
»Was für ein Mensch wirst du sein? Wem willst du ähnlich sein? Das ist das Wichtigste von allem, weil du jetzt auch über das Schicksal vieler anderer Menschen entscheiden musst, über das deines Vaters und deiner Mutter, auch das deiner Schwestern und der Rubias. Das ist viel für einen zehnjährigen Jungen, zu viel, ich weiß, aber das Schlimmste ist, dass du nicht immer zehn Jahre alt bleiben wirst, Nino. Nächstes Jahr wirst du elf sein, übernächstes zwölf, irgendwann zwanzig, fünfundzwanzig, und an jedem Tag dieser und der folgenden Jahre wirst du dich an die Entscheidung erinnern, die du heute triffst. Du wirst dich darüber freuen oder sie bedauern. Du musst darüber entscheiden, was für ein Mensch du sein willst, ein mutiger Junge, der mit zehn Jahren imstande war, ein schreckliches Geheimnis für sich zu behalten, der aus der Not eine Tugend machte, die Zähne zusammenbiss und weitermachte, um nicht seinen Vater, seine Mutter und fünf Frauen ins Verderben zu stürzen, von denen vier es nicht verdienten und eine vielleicht selbst schuld war, oder ein Feigling, der es vorzog zu heulen, sich selbst zu bemitleiden, der sich in sein Zimmer einschloss und Bauchschmerzen vortäuschte, der niemandem verletzen wollte, aber auch nichts unternahm, um es zu verhindern. Das musst du dir sehr gut überlegen, Nino.«
»Ja, aber jetzt …« Ich sah ihn an und erkannte in seinen Augen einen Schatten von Besorgnis, der mich genauso tief bewegte wie seine Worte. »Jetzt muss ich weinen.«
Da drückte Pepe mich erneut an sich, und ich ließ mich fallen und schluchzte, ohne mich zu fragen, warum, für wen, obwohl mir klar war, dass ich um mich weinte, um Vater, um Mutter, die nie wieder nach Almeria zurückkehren würde. Um meinen Großvater Manuel, der ein Carajita war, und um meinen Vater, um Fernando Pesetilla und um meinen Vater, um meine Onkel, die ich nicht gekannt hatte, und um meinen Vater, meinen Vater, der ein Mörder war und ein armer Kerl, ein Mörder und ein guter Mensch, ein Mörder und ein Pechvogel, ein Mörder und ein Opfer seiner selbst, ein Mörder ohne jede Spur des glücklichen Mannes, der auf dem Schwarzweißfoto aus besseren Zeiten lächelte. Ich weinte, und während ich weinte, glaubte ich, an nichts zu denken, dachte aber trotzdem an vieles, ehe die Tränen versiegten. Ich dachte, es sei nicht schwierig zu entscheiden, es sei leicht, sich zu verstellen. Ich verstellte mich schon ein Leben lang, belog mich und die anderen. Dulce hatte mir beigebracht zu lügen, meinetwegen, ihretwegen, Pepas wegen, als sie mir das erste Mal erklärte, dass die Schreie, die uns in den Nächten weckten, keine echten Schreie von echten Menschen waren, sondern von Schauspielern in einem Film. Es war nicht schwer, eine Entscheidung zu treffen, denn Vater und Mutter konnten lügen, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne die Fassung zu verlieren, schlaf endlich, es war nichts, wahrscheinlich hattest du nur einen Albtraum, und dabei lächeln, wahrscheinlich mussten die Kinder nach Hause, weil ihre Mütter sie gerufen haben. Es war leicht zu lächeln, es war leicht zu lügen, sich zu verstellen, die Wahrheit vor den anderen und sich selbst zu verstecken. Ihr dürft nicht raus, nicht einmal in den Hof, aber warum nicht? Weil ich es sage. Ein ganzes Leben schon hörte ich immer dasselbe, sagte dasselbe, tat dasselbe. Es war nicht leicht. Genauso wenig wie zu verstehen, dass mein Leben, unser Leben, beschissen war, das ich aber trotzdem zu leben wusste, weil ich seit meiner Geburt nichts anderes gelernt hatte.
Deshalb war es nicht wirklich schwer, sich zu entscheiden. Als ich mich ausgeweint hatte, löste ich mich vom Portugiesen, ohne den Kopf zu heben, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und blickte ihn an. Und da sah ich, dass er genau gewusst hatte, was ich antworten würde, als er mich fragte, was für ein Mensch ich sein wollte.
»Gehst du später zu Paula?«
»Weiß ich noch nicht.« Seine Stimme klang immer noch vorsichtig. »Warum fragst du?«
»Dann könntest du Doña Elena sagen, dass ich morgen um fünf komme.«
Der Portugiese lächelte und schloss kurz die Augen, und in
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