Der Feind
ehe Gould wieder losfuhr. Zu ihrer Rechten sahen sie Felder und Wälder sowie ein paar vereinzelte Häuser. Auf der linken Seite stand etwa alle fünfzig Meter ein Haus. Im schwindenden Licht des Tages sah er das Wasser der riesigen Bucht zwischen den Häusern aufblitzen.
»Wir sind jetzt ganz nah«, meldete Claudia, »keine hundert Meter mehr.«
Gould hielt bereits nach dem Wagen Ausschau.
»Fünfzig Meter.«
Er näherte sich einem weißen Haus und sah den BMW. Daneben war ein anderer Wagen geparkt. »Ich sehe ihn«, sagte Gould ein wenig angespannt.
»Versuch mal die Adresse am Briefkasten abzulesen.«
Gould nahm den Fuß vom Gaspedal, trat aber nicht auf die Bremse. Sie befanden sich auf einer schmalen geraden Straße. Als sie an dem Haus vorbeifuhren, las er die Nummer vom Briefkasten ab. Sie sah auf der Karte nach, um sich zu vergewissern, dass sie noch im Anne Arundel County waren. Dann rief sie die Website des Bezirks auf und ging zu den Immobilieninformationen weiter. Sie tippte die Adresse ein, und fünf Sekunden später kam die gewünschte Information.
»Das Haus wurde im Jahr 1997 für 235000 Dollar von Bay View Shores LLC gekauft. Keine weiteren Angaben.«
»Das ist er«, murmelte Gould und blickte über die Schulter zurück.
»Wie kannst du dir so sicher sein?«
»Er würde es sicher nicht an die große Glocke hängen, dass er hier wohnt.«
»Was ist, wenn sie hier nur Freunde besucht?«
»Er ist es«, beharrte Gould und umfasste das Lenkrad etwas fester. »Ich spüre es. Er ist jetzt gerade da drin.«
32
ANNE ARUNDEL COUNTY, MARYLAND
Mitch Rapp lief auf dem Kiesbett die Straße entlang und war nicht gerade fröhlich gestimmt. Es war noch nicht so lange her, da war er auf dieser Strecke dahingebraust, dass nur einige wenige Athleten auf der Welt mit ihm hätten Schritt halten können. Rapp war realistisch genug, um einzusehen, dass es unmöglich war, diesen Leistungsstand zu halten – aber das hieß noch lange nicht, dass er den Alterungsprozess gut fand. Er hatte sein Leben lang mit Schmerzen zu tun gehabt. Er wusste, wie man sie überwand, unterdrückte oder einfach ignorierte. Ja, der Schmerz war sogar etwas, das ihm zusätzliche Kraft gab, das Ziel zu erreichen, während andere aufgaben. Der Geist beherrschte den Körper; er konnte Muskeln und Gelenke dazu bringen, die verschiedenen Warnsignale zu ignorieren. Das Problem war jedoch, dass diese Warnsignale nicht ohne Grund kamen. Wenn man sie zu lange ignorierte, brach der Körper schließlich zusammen.
An diesem warmen Herbstmorgen begann sich Rapp während des Laufens jedoch zu fragen, ob sich der Schmerz nicht ein bisschen anders anfühlte als sonst. Es war wieder einmal das verdammte linke Knie. Seit drei Wochen plagte er sich nun mit diesen Schmerzen herum – und was er auch dagegen tat, es wurde nur noch schlimmer. Sein Körper wollte ihm wohl etwas mitteilen. Die Botschaft war schlicht und einfach, dass er aufhören sollte zu laufen.
Mit nur siebenunddreißig Jahren machten sich die körperlichen Verschleißerscheinungen schon sehr deutlich bemerkbar. Es kam eigentlich nicht überraschend, wenn man bedachte, wie er seinen Körper all die Jahre geschunden und gequält hatte, aber Rapp gehörte zu den Menschen, die überzeugt waren, dass sich mit Willenskraft, Entschlossenheit und Ausdauer jedes Hindernis überwinden ließ. Schon als Sportler in seiner Kindheit und Jugend und später auf dem College hatte er sich zahlreiche Verletzungen zugezogen, danach kamen die Belastungen, die er als Weltklasse-Triathlet auf sich nahm, und schließlich die körperlichen und seelischen Wunden, die sein Beruf mit sich brachte. Rein äußerlich hatte er vier Narben von Kugeln, die ihn hätten töten sollen, und zwei Narben von beträchtlicher Größe, die von Messerattacken stammten. Was das Innere betraf, so war der Schaden, den die Kugeln angerichtet hatten, wohl zum Großteil behoben, doch die psychischen Folgen seiner Arbeit waren ein Thema, an das er lieber nicht dachte. Seine Frau sagte manchmal, dass sein Gehirn wie ein Keller sei, in dem sich Gerümpel von vielen Jahren angehäuft hatte. Wenn man nicht einmal im Jahr Ordnung schaffte, dann hatte man es eines Tages mit einem entsetzlichen Saustall zu tun.
Sein Instinkt sagte ihm, dass sie wohl recht hatte, doch er glaubte nicht, dass ihm irgendein Therapeut helfen konnte – denn um ihm zu helfen, hätte man wohl dasselbe durchmachen müssen wie er, und das konnte man wohl von keinem
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