Der Feind
Programm zur Entwicklung von Atomwaffen auf die Beine zu stellen. Sie war überzeugt, dass das Schreckgespenst eines nuklear gerüsteten Japan die Chinesen dazu bewegen würde, Nordkorea im Zaum zu halten. Es gab natürlich Leute, die das ganz anders sahen. China könnte im Gegenzug damit drohen, Taiwan anzugreifen, sodass die ganze Sache eskalieren könnte.
Es hätte aber keinen Sinn gehabt, mit den beiden allzu blauäugigen Diplomaten hier über die Sache zu diskutieren. Und so ließ sie sie lang und breit darüber reden, wie sinnvoll es wäre, bilaterale Gespräche zu führen. Schließlich könne man immer noch zu multilateralen Gesprächen zurückkehren, wenn man nichts erreichte. Der Vortrag, den sie über sich ergehen ließ, führte ihr wieder einmal vor Augen, warum sie von vornherein nicht an dem Empfang für den saudiarabischen Außenminister hatte teilnehmen wollen. Solche Anlässe führten allzu oft dazu, dass man in Diskussionen verwickelt wurde, in denen beim besten Willen kein gemeinsamer Nenner zu finden war. Sie blickte sich nach ihrem neuen Chef um. Die Sache war seine Idee gewesen; er hatte ihr quasi befohlen hinzugehen, und das noch dazu auf sehr herablassende Weise. Er teilte ihr mit, dass sie in Zukunft überhaupt mehr zur Pflege der Beziehungen zu befreundeten Staaten beitragen müsse. Sie nahm die Anweisung entgegen, ohne etwas zu sagen, doch sie musste daran denken, was Rapp ihr gesagt hatte – dass Ross ein Idiot sei.
Irene Kennedy fragte sich, ob es bei dieser Sache nicht überhaupt um Rapp ging. Vielleicht wollte er sie für Rapps respektloses Vorgehen bestrafen. Sie hatte sich nicht anmerken lassen, dass sie von der Konfrontation wusste, doch Ross wusste wohl ohnehin, dass ihr alle Details des Vorfalls bekannt waren. Was anfangs nach einer recht vernünftigen Arbeitsbeziehung ausgesehen hatte, schien sich nun alles andere als gut zu entwickeln. Sie hätte nicht sagen können, ob Rapp zu dieser Klimaverschlechterung beigetragen hatte oder ob es ohnehin früher oder später so gekommen wäre – doch sie fragte sich immer mehr, ob Ross nicht vielleicht der Falsche für diesen Job war.
Irene Kennedy hatte überlegt, ob sie Rapp zwingen sollte, sie zu dem Empfang zu begleiten – gleichsam um ihn für sein eigenmächtiges Vorgehen zu maßregeln, doch es kam etwas dazwischen, das ihn davor bewahrte. Er war zu ihr ins Büro gekommen und hatte ihr mitgeteilt, dass er sich gleich am nächsten Morgen einer Knieoperation würde unterziehen müssen. Sie fragte, wie ernst die Sache sei, worauf er nur achselzuckend ein paar ausweichende Worte murmelte. Nach einigen weiteren Fragen erfuhr sie, dass er in zwei Tagen wieder zur Arbeit gehen könne. Das klang nicht allzu dramatisch, doch als sie noch einmal nachfragte, kam heraus, dass das Ganze nur eine vorläufige Maßnahme sei. Der Arzt hatte gemeint, dass er spätestens in fünf Jahren ein künstliches Kniegelenk brauchen würde. Irene Kennedy war selbst überrascht, wie wenig betroffen sie angesichts der Nachricht war. Ja, sie war fast erfreut zu hören, dass er in Zukunft etwas kürzertreten musste. Mit etwas Glück konnte sie ihn sogar dazu überreden, künftig nur noch vom Schreibtisch aus zu agieren.
Als Ross schließlich erschien, tat er es in einer Art und Weise, als wäre er der Präsident persönlich. Sein Gefolge bestand aus dem allgegenwärtigen Jonathan Gordon, zwei Mitarbeiterinnen seines Stabes sowie aus vier hünenhaften Secret-Service-Agenten. Irene Kennedy blickte auf die andere Seite des Raumes zu Außenministerin Berg hinüber und stellte fest, dass kein einziger Angehöriger ihres Sicherheitsteams anwesend war. Schließlich befanden sie sich in einem der sichersten Gebäude von Washington. Es gab also keinen Grund, dass die Sicherheitskräfte ihrem Schützling auf Schritt und Tritt folgen sollten – es sei denn, der Betreffende war ganz einfach ein Wichtigtuer.
Irene Kennedy stand in ihrer Ecke und hörte weiter den Ausführungen der beiden Vertreter des Außenamts zu. Sie hatte es nicht eilig, mit Ross zu sprechen, deshalb wartete sie, bis er von sich aus zu ihr kam. Ross schüttelte Hände und klopfte dem einen oder anderen auf den Rücken. Kennedy war amüsiert, als sie einem Senator, der gerade mit Ross zusammentraf, von den Lippen ablas: »Was machen Sie denn hier?«
Gute Frage , dachte sie sich. Sie blickte auf ihre Uhr und stellte fest, dass er sich eine halbe Stunde verspätet hatte, obwohl er ihr nahegelegt hatte,
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