Der Feind
vergewissern, dass ihr schwarzer Hosenanzug perfekt saß. Dann rückte sie ihre Brille zurecht und trat durch die Tür in den Westflügel des Weißen Hauses ein, wo ihr ein weiterer Secret-Service-Mann entgegenkam. Nachdem sie sich ausgewiesen hatte, stieg sie die Treppe hinauf und gelangte schließlich zur Vorzimmerdame des Präsidenten. Die gebürtige Washingtonerin Betty Rodgers war eine äußerst kompetente Assistentin, zu der Irene einen guten Draht hatte.
Bettys Büro war ziemlich klein, so wie die meisten Zimmer im Westflügel, mit Ausnahme des Oval Office und des Cabinet Room. Betty blickte über den Rand ihrer Lesebrille zu Irene Kennedy auf. Sie war Anfang fünfzig, hatte jedoch schon eine gewisse großmütterliche Ausstrahlung. Sie schürzte die Lippen, als wolle sie etwas sagen, ließ es dann aber sein.
Kennedy und Betty konnten einander gut leiden, was recht hilfreich war. Als wichtigste Assistentin des Präsidenten bekam sie einige der bestgehüteten Geheimnisse des Landes mit. Ihr Job verlangte Zähigkeit und Diskretion, zwei Qualitäten, die sie in hohem Maße besaß.
»Guten Abend, Betty.«
»Irene, was haben Sie nur angestellt?«, fragte Betty in freundlich vorwurfsvollem Ton.
»Ach, nicht viel.«
»Da habe ich aber etwas anderes gehört, meine Liebe. Da drin warten ein paar ziemlich zornige Leute auf Sie. Die Telefone sind heiß gelaufen, das kann ich Ihnen sagen.«
Es war Kennedy nicht egal, wie diese Leute reagierten, aber am wichtigsten war für sie der oberste Boss. »Und der Präsident?«, fragte sie.
»Er hat anders reagiert.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich weiß nicht … er ist in letzter Zeit sowieso irgendwie anders. Ihren kleinen Trip in die Schweiz hat er jedenfalls ziemlich ruhig aufgenommen. Es waren die anderen, die Zoff gemacht haben. Sie haben sich zuerst telefonisch beklagt und sind dann geschlossen zum Mittagessen erschienen, um ihrem Ärger Luft zu machen.« Betty nahm ihre Brille ab und ließ sie an der Kette um ihren Hals herunterhängen. Mit etwas leiserer Stimme fügte sie hinzu: »Ich hoffe, Sie haben, was Sie wollten, weil die Leute Sie nämlich am liebsten auf dem Scheiterhaufen verbrennen würden.«
Kennedy lächelte und zeigte auf ihre braune Mappe.
»Gut«, sagte Betty und blickte auf ihre Uhr. »Gehen Sie rein und geben Sie ihnen Saures. Und machen Sie’s bitte kurz, ich erwarte nämlich Gäste zum Abendessen.«
Kennedy dankte ihr und trat ins Oval Office ein. Sie warteten schon auf sie – der Präsident, Ross, Außenministerin Berg, Justizminister Stokes und sogar Vizepräsident Baxter. Baxter und der Präsident saßen auf den beiden Stühlen vor dem Kamin, während Ross, Berg und Stokes auf einer Couch saßen wie ein Exekutionskommando. Die Couch gegenüber war leer. Sie wollten, dass sie hier saß, ganz allein und isoliert, wie ein Schulkind, das zum Direktor musste. Kennedy hatte ganz und gar nichts dagegen, für sich allein zu sitzen. Sie legte ihre Ledermappe auf den gläsernen Couchtisch und lehnte sich auf ihrem Platz zurück. Ihre Zuversicht gewann sie aus dem Wissen, dass die Argumente der anderen sehr emotional ausfallen würden, während sie handfeste Beweise in den Händen hatte.
Ross war der Erste, der das Wort an sie richtete. Er trug, wie immer, einen teuren dunklen Maßanzug, dazu eine silberfarbene Krawatte, die mit seinem silbrig schwarzen Haar harmonierte. Noch vor zwei Wochen hatte Kennedy gefunden, dass er gut aussah – jetzt sah sie nur noch einen Mann vor sich, der besessen war von seiner Eitelkeit.
Ross richtete sich ein wenig auf und sah Kennedy mit ernster Miene an. »Haben Sie irgendetwas zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen?«, fragte er.
Kennedy schüttelte den Kopf. Sie wollte, dass die anderen zuerst ihr Blatt ausspielten.
»Gut, dann würde ich Ihnen gern mal schildern, wie mein Tag verlaufen ist«, fuhr Ross in verärgertem Ton fort. »Kurz vor Mittag bekam ich einen Anruf von Außenministerin Berg. Sie fragte mich, ob ich wüsste, dass Sie in der Schweiz wären.« Ross blickte kurz zum Präsidenten hinüber und wandte sich wieder Kennedy zu. »Halten Sie es für akzeptabel, das Land zu verlassen, ohne mich zu informieren?«
»Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, Mark. Ich wollte Sie nicht stören.«
»Keine gute Entschuldigung.«
Irene Kennedy zuckte die Achseln.
Ross war sichtlich erzürnt über ihre gleichgültige Haltung. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was für Probleme Sie uns heute bereitet haben? Der
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