Der Feind
Jahren, die er nun seinen Beruf ausübte, war er jedoch sehr vorsichtig geworden – und so fuhr er auf dem Weg aus der Stadt zweimal von der Autobahn ab und machte wieder kehrt. Als er absolut sicher war, dass ihm niemand folgte, trat er ordentlich aufs Gas, um so schnell wie möglich sein Ziel zu erreichen. Als er sich den Gebirgspässen näherte, kam er auf den gewundenen Straßen deutlich langsamer voran. Die Fahrt von Zürich nach Bludenz dauerte zwei Stunden und siebenundvierzig Minuten.
Als Abel in das schmucke Städtchen einfuhr, überfiel ihn augenblicklich ein Gefühl der Melancholie. Er liebte diesen Ort, und es machte ihn traurig, dass er nicht mehr hier sein konnte, weil ihn irgendein sadistischer Saudi und ein verrückter Amerikaner daran hinderten. Ganz spontan hielt er vor einem kleinen Lebensmittelgeschäft an. Er war hungrig und würde schnell einige seiner bevorzugten Leckerbissen besorgen. Abel betrat den Laden, und ein Glöckchen meldete dem Inhaber, dass ein Kunde gekommen war. Abel atmete die vertrauten Düfte ein. Die Kuchen und Torten, die Pasteten, der frische Kaffee – dieser Ort war einfach himmlisch.
Der Metzger stand an seinem Platz hinter der Fleischtheke, eine saubere weiße Schürze umgebunden. Abel beobachtete ihn genau, um irgendeine Reaktion zu erkennen, die vielleicht ahnen ließ, dass Fremde in der Stadt waren und nach ihm gefragt hatten. Wer wusste schon, wozu diese Amerikaner fähig waren? Nachdem sie sich in einem erbitterten Krieg gegen den Terror befanden, würden sie wohl auch Interpol und die Behörden in der Schweiz und Osterreich benachrichtigen.
Der Metzger sah ihn mit einem freundlichen Lächeln an. Obwohl er Abel nicht mit Namen kannte, sagte er, dass er sich freue, ihn wiederzusehen. Abel war erleichtert über diese Reaktion. Er war den Leuten, die ihn suchten, immer noch einen Schritt voraus. Er entschied sich für einige Würste, etwas Gemüse und Käse, Milch, frischen Kaffee, zwei Stück Kuchen und ein paar Eier. Als er das Geschäft verließ, überlegte er, ob er nicht über Nacht bleiben konnte. Er wusste, dass es nicht klug war, aber er wusste auch, dass er sein geliebtes Haus in den Bergen länger nicht zu sehen bekommen würde.
Abel lenkte seinen silberfarbenen Mercedes SL 55 AMG mit offenen Fenstern die Serpentinenstraße hinauf. Die Luft war kalt, doch das war ihm egal; es tat so gut, die klare Bergluft einzuatmen. Abel würde die majestätische Landschaft und den malerischen Ort vermissen. Wenn er doch nur bleiben und sich hier hätte verborgen halten können. Doch das war nun einmal nicht möglich. Petrow wusste von dem Haus, und die Amerikaner würden irgendwann herausfinden, dass Petrow in der Zeit des Eisernen Vorhangs sein direkter Vorgesetzter war.
Abel blickte auf die jüngsten Ereignisse zurück und fragte sich, wo er den entscheidenden Fehler begangen hatte. Lag der Fehler bereits darin, dass er den Auftrag von Saeed angenommen hatte? Oder darin, dass er Druck auf die Killer ausgeübt und ihnen angedroht hatte, sie zu verfolgen? Damals war ihm das ganz logisch erschienen, doch jetzt war ihm klar, dass das ein törichter und sehr emotionaler Schritt gewesen war. Er hatte keine Ahnung, wer die beiden waren, während sie viel zu viel über ihn wussten. Es lag nun auf der Hand, was die beiden getan hatten. Er hatte ihnen gedroht, und anstatt ihn selbst zu jagen, wie es ihm der Mann angedroht hatte, beschlossen sie, ihm dieses Monster von Mitch Rapp auf den Hals zu hetzen. Es war ein wirklich brillanter Schachzug der beiden, den Abel hätte vorhersehen müssen. Sein zweiter Fehler war, das Geld auf den Konten zu lassen. Er hätte es in Sicherheit bringen müssen. Es wurmte ihn gewaltig, dass er sich elf Millionen Dollar so einfach hatte abnehmen lassen.
Abel nahm die letzte Kehre und sah sein Haus nun direkt vor sich. Als er in der Zufahrt anhielt, sah er sich erst einmal um. Auf den ersten Blick sah alles so aus, wie er es verlassen hatte. Er stieg aus und stand einen Moment lang nur da, um zwischen den dichten Ästen der Kiefern und den goldgelb verfärbten Blättern der Espen hindurchzublicken. Außer dem Rascheln der Blätter war weit und breit kein Geräusch zu hören.
Abel ließ die Lebensmittel auf dem Rücksitz des Wagens und ging ins Haus. Er sperrte die Tür hinter sich zu und ging sofort die Treppe hinunter. Das Haus war in den Berghang gebaut, sodass der Keller einen erdigen, modrigen Geruch hatte. Eine Tür mit drei Fenstern bot
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