Der Feind
unerlässliche Pflichtlektüre. Wenn man beides las und das Wesentliche daraus entnahm, konnte man leicht seinen Kurzbericht über die neuesten Skandale abliefern, die sich im und um das Weiße Haus zusammenbrauten. Wenn man genug Zeit hatte und jemanden im Weißen Haus dazu bringen konnte, ein paar Fragen zu beantworten, so war das natürlich fein – aber in der Praxis stand man zumeist unter so großem Zeitdruck, dass man sich damit zufriedengab, das Gelesene zusammenzufassen und nachzuplappern. Während nun also ihr Ehemann dahinbrauste wie ein Bankräuber auf der Flucht, bemühte sie sich, nicht darauf zu achten, was außerhalb des gepanzerten Wagens vor sich ging.
Der maßgeschneiderte silberfarbene Audi A8 war etwa dreißig Prozent schwerer als das Fabrikmodell. Fast das gesamte zusätzliche Gewicht kam von der kugelsicheren Kevlar-Panzerung, mit der das Fahrzeug rundum ausgestattet war. Der Motor der Limousine war jedoch stark genug, um die zusätzlichen 600 Kilo spielend zu verkraften. Der einzige nennenswerte Unterschied bestand im Benzinverbrauch.
»In der Post steht ein guter Artikel über deinen neuen Chef«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Solltest du lesen.«
Rapp trat stirnrunzelnd aufs Gaspedal und wechselte die Fahrspur. »Wovon redest du?«
»Ross … der neue Direktor der National Intelligence.«
»Ich würde ihn nicht meinen Chef nennen.«
Anna warf einen Blick auf den Tacho und widerstand dem Drang, über das Armaturenbrett hinauszublicken. Sie waren auf dem Highway 50 unterwegs, und wenn sie ganz ehrlich war, hätte sie nicht sagen können, ob man hier 80, 90 oder 100 Stundenkilometer fahren durfte – aber sie war sich jedenfalls sicher, dass 130 km/h, wie es der Tacho anzeigte, zu schnell war. So war das Leben mit Mitch Rapp nun einmal. Es hatte eine gewisse Zeit gebraucht, aber sie hatte schließlich gelernt, sich zurückzulehnen und sich keine Sorgen zu machen.
»Nach dem, was hier steht, ist er sehr wohl dein Chef«, beharrte sie.
Rapp hatte es noch nie so betrachtet, aber wenn man sich an das hielt, was in irgendwelchen – in seinen Augen völlig entbehrlichen – organisatorischen Unterlagen stand, so war der Mann wohl tatsächlich sein Chef. »Er ist ein Bürohengst, Liebling. Sie haben auf die umgedrehte Pyramide noch eine Schicht Bürokratie draufgepackt.«
Diesmal blickte sie auf und sah ihn mit ihren umwerfenden grünen Augen lächelnd an. »Und du bist der Atlas, der das alles auf seinen Schultern trägt, nicht wahr, Liebling?« Sie streckte die Hand aus und legte sie ihm in den Nacken. Er blinzelte, zuckte aber nicht zusammen, was für ihn schon ganz gut war. Es hatte viele Monate gedauert, bis er gelernt hatte, ihr zu vertrauen. So wie ein Hund, der geschlagen worden war, konnte auch Mitch es nicht ertragen, wenn man ihn berührte.
»Warum bist du so verletzend?«, erwiderte er, seiner neuesten Strategie folgend. Er hatte es sich angewöhnt, ihre politisch korrekten Slogans gegen sie zu verwenden und sich selbst als Opfer hinzustellen. »Ich dachte, wir sind im selben Team?«
Sie streichelte seinen Nacken. »Sind wir auch, Liebling. Ich necke dich bloß so gern. Hast du ihn denn schon getroffen?«
»Wen?«
»Ross.«
Rapp war aus verschiedenen Gründen paranoid, doch er versuchte, diese Haltung auf das Berufliche zu beschränken. Es kam jedoch vor, dass seine überaus neugierige Frau die Grenzen zwischen ihrem Privatleben und ihren Jobs nicht zur Kenntnis nahm. Er sah seine Anna an, um vielleicht einen Hinweis zu erhaschen, ob sie mehr wusste, als sie sagte. »Ich habe ihn ein paarmal getroffen.«
»Und?«
»Was und?«
»Wie ist dein Eindruck von dem Mann?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Rapp ausweichend.
»Höre ich da eine gewisse Ablehnung heraus?« Sie hatte eine Locke in seinem Nacken gefunden, die sie um ihren Zeigefinger wickelte.
»Langsam, langsam, Lois Lane.«
»Sag schon«, drängte sie ihn. »Der Artikel deutet an, dass ihn alle mögen – egal, ob Republikaner oder Demokraten.«
»Und du glaubst alles, was in den Zeitungen steht?«
»Solange ich keinen Beweis für das Gegenteil habe … ja.« Sie wandte sich ihm zu, um ihm in die Augen zu sehen. »Bist du vielleicht sauer, weil Irene den neuen Top-Job nicht bekommen hat?«
»Nein«, antwortete er stirnrunzelnd. »Mir ist Irene dort am liebsten, wo sie jetzt ist. Sie hält mir die Leute vom Leib und sorgt dafür, dass ich das bekomme, was ich brauche. Außerdem muss sich erst zeigen, wie viel
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