Der Feind
damit wir es wissen. Natürlich ist es von dir, du Dummkopf.«
Gould lachte und zog sie an sich. Er wiegte sie im Arm wie ein Baby und lächelte von einem Ohr zum anderen. In leisem, fast entschuldigendem Ton fragte er: »Warum hast du es mir denn nicht gesagt?«
»Ich wollte dich nicht ablenken. Ich will, dass wir die Sache hinter uns bringen, damit wir mit diesem Leben ein für alle Mal abschließen können.« Sie zupfte am Ärmel ihres Bademantels und wischte sich die Tränen ab. »Wie hast du es denn gemerkt?«
Er lächelte. »Es gab einige sehr deutliche Anzeichen.«
»Was zum Beispiel?«
»Na ja … als wir gestern Nacht miteinander geschlafen haben, da ist mir aufgefallen, dass deine Brüste irgendwie …« Er machte eine Geste mit der Hand und suchte nach dem richtigen Wort.
»Größer sind?«, half ihm Claudia.
»Ja, so kann man es sagen«, pflichtete er ihr lächelnd bei und fügte hinzu: »Aber so richtig ist mir erst ein Licht aufgegangen, als du vorhin auf die Toilette gestürzt bist und dich übergeben hast. Und dann bist du zurückgekommen und hast dein halbes Frühstück verschlungen, bevor du überhaupt bemerkt hast, dass ich neben dir sitze.«
»Du hast das alles gesehen«, sagte sie überrascht.
»Claudia, Liebling, das ist nun mal mein Beruf. Ich beobachte die Menschen ganz genau.«
Sie blickte zum Fenster hinüber und nickte. Und dann tötest du sie , fügte sie in Gedanken hinzu. Sie saß eine Weile still da und sah ihm in die Augen. Wie konnten diese warmen, zärtlichen Augen zu einem Mann gehören, der gleichzeitig so brutal vorgehen konnte? Sie musste ihm helfen, diese Seite abzulegen. Er war schließlich nicht immer so gewesen. Gewiss war er einst ein unbekümmerter, heiterer kleiner Junge. Und auch jetzt hatte er, obwohl er ein Auftragskiller war, auch eine zärtliche Seite an sich. Sein Vater hatte ihn, ohne es zu wissen, zur Legion getrieben, und dort war er zum Killer geworden. Ihre Aufgabe würde es sein, ihm diese Instinkte auszutreiben und ihn wieder zu dem Menschen zu machen, der er immer hätte sein können.
Sie streichelte sein Gesicht. »Verstehst du jetzt, warum das unser letzter Auftrag sein muss?«
Er nickte und nahm sie in die Arme. »Ja, das ist mir klar.« Er hielt sie fest im Arm und dachte daran, wie grundlegend sich sein Leben nun ändern würde. Doch seine Gedanken kehrten rasch wieder ins Hier und Jetzt zurück. Das Baby konnte warten. Es musste warten. Sie mussten sich jetzt ganz darauf konzentrieren, diesen letzten Auftrag zu erledigen.
Er blickte auf die Uhr und fragte: »Kannst du in zwanzig Minuten so weit sein, dass wir aufbrechen können?«
»Warum?«
Gould zeigte auf den Fernseher. »Ich möchte zum Weißen Haus hinübergehen und mir Mrs. Rapp ansehen.«
Sie blickte kurz auf den Fernsehschirm und dann wieder zu Louie zurück. Irgendeine innere Stimme sagte ihr, dass sie das Geld nehmen und abhauen sollten, aber sie wusste, dass sie ihn mit einem solchen Vorschlag nur verärgert hätte. Wir haben noch ein ganzes gemeinsames Leben vor uns , sagte sie sich. Diese eine Woche noch, dann wird alles anders.
Es war ein windstiller und angenehm warmer Vormittag. Louie sagte Claudia, dass sie die Sportkleidung anziehen solle, die er ihr gekauft hatte, während er in seine neue Nike-Hose und ein T-Shirt schlüpfte. Sie trugen außerdem Baseballkappen und Sonnenbrillen, sodass sie wie zwei typische junge Amerikaner aussahen, die etwas für ihre Fitness taten. Bevor er Claudia vom Flughafen abgeholt hatte, war er noch in einem Best-Buy-Großmarkt gewesen, wo er eine Canon-10D-Digitalkamera und ein Zoomobjektiv kaufte. Louie hängte sich die Kamera um, und sie brachen auf und traten auf den Farragut Square hinaus. In der K Street gab es ein Starbucks-Café, wo sie sich anstellten. Louie nahm einen kleinen schwarzen Kaffee, und Claudia einen Kräutertee.
Mit den warmen Bechern in den Händen gingen sie los, um das kurze Stück zum Weißen Haus zurückzulegen. Jetzt, im Oktober, gab es in Washington nicht annähernd so viele Touristen wie im Sommer, wenngleich es immer noch eine stattliche Anzahl war. Sie trafen auf eine Gruppe von Asiaten, die von einer privaten Reiseleiterin geführt wurden. Sie bewegten sich in die gleiche Richtung wie Louie und Claudia und nahmen den Großteil des Bürgersteigs ein. An der Ecke 17 th und I Street blieben sie stehen, um einige interessante Gebäude auf der anderen Straßenseite zu fotografieren. Louie nützte die
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