Der Feind
Kulturen, die entweder mit großer Brutalität vorgingen oder deren Bevölkerung eine große Opferbereitschaft an den Tag legte; oft kam auch beides zusammen. Die Chinesen waren die kommende große Supermacht. Sie waren hungrig nach Veränderung. Abel fand solche langfristigen Vorhersagen überaus interessant, doch es gab im Hier und Jetzt dringendere Dinge, denen er sich zuwenden musste.
Es gab da einen bestimmten saudi-arabischen Prinzen, dem er nicht mehr traute. Abel wandte seine Aufmerksamkeit von der Athene-Statue ab und blickte auf die Unterlagen auf seinem Schreibtisch hinunter. Sie stellten seine komplette finanzielle Situation dar. Die Zahlen belegten, dass der Killer in seinem Urteil richtig gelegen hatte; Abels liquides Vermögen war einfach nicht ausreichend. Sein Immobilienbesitz in der Schweiz und Österreich machte rund drei Millionen Dollar aus. Außerdem besaß er 1,2 Millionen in bar sowie in Wertpapieren, die er ohne größere Probleme verkaufen konnte. Das reichte nicht aus, um sehr lange davon leben zu können, falls er gezwungen war, unterzutauchen. Zumindest nicht bei dem Lebensstil, an den er sich gewöhnt hatte. Was der Killer jedoch nicht wusste, war, dass Abel die Hälfte des Honorars kassierte. Zu den 1,2 Millionen kamen somit fünf Millionen in bar hinzu. Mit einem solchen finanziellen Polster konnte man schon für eine Weile von der Bildfläche verschwinden. Wenn es dem Killer gelang, Rapp zu töten, würde er weitere fünf Millionen bekommen. Das ergab schon ein stattliches Vermögen, doch die Vorstellung, sein gegenwärtiges Leben hinter sich zu lassen, wollte ihm immer noch nicht recht gefallen.
Abel stand vor einer schwierigen Entscheidung. So wie es im Moment aussah, musste er sich vor allem auf drei Möglichkeiten vorbereiten. Die erste war, dass der Killer Erfolg hatte und die Amerikaner nach den Tätern fahndeten. Dies war die beste aller Möglichkeiten. Abel war sich ziemlich sicher, dass die Amerikaner, wenn sie nicht gerade den Killer schnappten, kaum eine Chance hatten, jemals auf ihn zu stoßen. Er hatte einige Mühe aufgewendet, um seine finanziellen Spuren zu verwischen. Die zweite Möglichkeit, von der er nicht wirklich überzeugt war, dass er sie verwirklichen konnte, war, dass er den Killer nach Erledigung des Jobs tötete. Diese Strategie konnte ihm auf vielerlei Weise zum Verhängnis werden – im schlimmsten Fall dadurch, dass er den Mann nicht töten könnte und er selbst zum Gejagten wurde. Bis jetzt war ihm der Killer stets einen Schritt voraus gewesen. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass er diesen überaus fähigen Mann so einfach überlisten konnte. Die dritte Möglichkeit, für die er gewappnet sein musste, war, dass er selbst bereits zur Zielscheibe geworden war. Es hätte Prinz Muhammad durchaus ähnlich gesehen, wenn er bereits jemanden engagiert hatte, um ihn auszuschalten. Jedwede Loyalität, die er einmal gegenüber dem Prinzen empfunden hatte und die sich ohnehin darauf beschränkt hatte, seine Aufträge so gut wie möglich zu erfüllen, war nun weg. Er hatte schon geahnt, dass es eines Tages so weit kommen würde. Es war jedenfalls Zeit, sich von Rashid zu trennen. Das Schwierige war, trotzdem die andere Hälfte des Honorars zu kassieren und ganz einfach am Leben zu bleiben. Darüber hinaus hätte er noch sehr gern seinen Immobilienbesitz behalten.
Er musste jedenfalls alle drei Möglichkeiten in Betracht ziehen. Zuerst musste er sehen, ob er nicht mehr Informationen von seinem alten Freund Dimitri bekommen konnte. Der ehemalige KGB-Agent wusste bestimmt mehr über diesen Killer als nur seine Telefonnummer und seine E-Mail-Adresse. Wenn er herausfinden konnte, wer der Mann war, würde das manches leichter machen. Wenn es dem Killer gelang, Rapp zu töten, standen ihm laut Vereinbarung weitere fünf Millionen Dollar zu. Abel konnte die Ungarn wahrscheinlich dazu bringen, den Mann für 100000, allerhöchstens 200000 Dollar zu beseitigen. Abel konnte dann die restlichen 4,8 Millionen kassieren und seine Geschäftsbeziehung zu Rashid auf freundschaftliche Weise beenden. Falls es ihm nicht gelingen sollte, mehr über den Killer in Erfahrung zu bringen, war es wohl ratsam, sich für eine Weile rar zu machen, bis sich die Dinge beruhigt hatten. Er traf schließlich eine Entscheidung darüber, was er in der Zwischenzeit zu tun hatte.
Abel drehte sich mit seinem Stuhl und drückte auf die Leertaste, um den Bildschirmschoner verschwinden zu lassen.
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