Der feine Unterschied
davor. Doch auch wir lassen keine Chancen des Gegners zu, das Spiel läuft auf Augenhöhe, ohne die ganz großen Höhepunkte, bis Miro Klose gegen Ende der ersten Halbzeit nach einem schnellen Angriff Bernd Schneider einsetzt, der rechts mitgelaufen ist, und Bernd, der Techniker, derjenige Spieler unserer Mannschaft mit der überragenden Schusstechnik, Bernd ist schon im Strafraum, allein im Strafraum, zieht ab und der Ball geht knapp über das Tor, scharf, gewaltig, daneben.
Im Nachhinein werden solche Szenen immer mit Bedeutung aufgeladen. Was, wenn der Schuss von Bernd im Tor gelandet wäre? Keine Ahnung, vielleicht hätten wir uns freigespielt, vielleicht hätte Italien reagiert und wir hätten Kontermöglichkeiten vorgefunden, vielleicht hätte das Tor die Italiener geschockt, und sie wären nicht mehr zurückgekommen. Vielleicht wäre es aber auch ganz anders gekommen.
Das Spiel wird jetzt von den Defensiven beider Mannschaften geprägt. Weder vor dem einen noch vor dem anderen Tor passiert allzu viel. Nach einem Gewühl vor unserem Tor rollt der Ball plötzlich an den Pfosten, Lukas Podolski bringt den Ball zweimal gefährlich aufs Tor, ein Schuss von Gianluca Zam-brotta streift die Latte, das ist alles. Es ist kein gutes Spiel. Es ist das Halbfinale der WM.
Zuschauer sprechen immer von einem guten Spiel, wenn es zügig von einer Seite zur anderen geht, wenn Chancen erarbeitet werden und viele Tore fallen. Spieler sehen das anders. Bei einem Spiel, das ohne Pause hin und her geht, fragen wir uns, was wir eigentlich machen. Das ist nicht Fußball auf höchstem Niveau. Man muss das Spiel auch kontrollieren können und entscheiden, dass man angreift und in Ballbesitz bleibt, bis man wirklich eine gute Möglichkeit hat, den Angriff abzuschließen. Von Sechzehner zu Sechzehner zu rennen, mag gute Unterhaltung für die Zuschauer sein, aber guter Fußball funktioniert so nicht.
In diesem Sinn ist Deutschland gegen Italien eben doch ein gutes Spiel. Beide Mannschaften spielen taktisch erstklassig, beide sind enorm diszipliniert. Beide haben gute Spieler, aber gegen das organisierte Kollektiv des Gegners kommen die nicht entscheidend zur Geltung.
Verlängerung. Schon wieder Verlängerung.
Spätestens jetzt ist klar, dass wir müder sind als die Italiener. Während wir den Krimi gegen Argentinien absolvieren mussten, spielte Italien die Ukraine locker aus und musste dafür weniger Substanz verbrauchen.
Auch in der Verlängerung bleibt das Verhindern von Fehlern das oberste Gebot dieses Spiels. Die Minuten vergehen zäh, und ohne zu viel nachzudenken nistet sich der Gedanke bei uns ein, dass wir uns auch in diesem Halbfinale ins Elfmeterschießen retten könnten, auch wenn das Spielfeld sich zunehmend zu neigen scheint, der Ball rollt leichter in die Richtung unseres Tors als umgekehrt.
Noch drei Minuten zu spielen, Andrea Pirlo schießt aus zwanzig Metern aufs Tor, Jens Lehmann dreht den Ball zur Ecke.
Der Eckstoß kommt wieder zu Pirlo, der kann an der Strafraumgrenze unbedrängt laufen, spielt dann weiter zu Fabio Grosso, der acht Meter vor dem Tor frei zum Schuss kommt. Grosso trifft den Ball so genau wie ein Boxer das Kinn seines Gegners, der Ball schlägt Zentimeter neben dem langen Pfosten ein, und wir sind k.o.
Wer ist schuld an dem Tor? Oft wird diese Frage an einem Spieler allein festgemacht, weil er im letzten Moment den Gegner nicht am Torerfolg gehindert hat. In Wahrheit ist es viel komplizierter, nimmt ein Fehler schon viel früher seinen Ausgang, ist der nicht verhinderte Torschuss nur das letzte Glied in einer Kette der Verhängnisse.
Ich stehe beim Eckball am kurzen Pfosten, und David Odonkor lauert am langen. Wäre David dort stehen geblieben, hätte er Grossos Ball rausköpfen können. Aber wäre er stehen geblieben und ein Gegner hätte den Schuss knapp vor dem Tor noch abgefälscht, hätte er das Abseits aufgehoben. Welches die richtige Entscheidung gewesen ist, weißt du immer erst im Nachhinein.
Mit diesem Tor sind wir weg. Wir haben nicht mehr die Kraft, entscheidend zurückzukommen. Während des ganzen Spiels haben wir nicht viele Chancen gehabt, und jetzt bleibt uns nur noch die brachiale Methode gegen die beste Defensive der Welt, alle Mann vor, lange Bälle vors Tor, hoffen, dass mit dem Ball noch irgendeine Chance vom Himmel fällt.
Aber die Italiener lassen nichts mehr zu. Sie tun, wofür sie berühmt sind. Ein Abpraller wird schnell nach vorn gespielt, wir sind hinten völlig
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