Der feine Unterschied
niemand begreift, dass eben fast die Welt untergegangen wäre, aber dann ist die Situation auch schon wieder vorbei, die restlichen Minuten sind um, der Schiedsrichter pfeift ab, der Weltuntergang ist abgesagt. Das Viertelfinale der WM 2006 wird im Elfmeterschießen entschieden.
Ich gehe zur Bank, schnappe mir eine Wasserflasche. Um den Trainer bildet sich eine Traube von Spielern, denn der Trainer muss jetzt entscheiden, wer die Elfmeter ausführt und in welcher Reihenfolge.
Ich bin zuversichtlich, denn die Deutsche Nationalmannschaft hat gute Elfmeterschützen. Viele unserer Spieler, Schneider, Ballack, Podolski, haben eine großartige Schusstechnik, und darauf kommt es in Momenten an, in denen man unter so gewaltigem Druck steht wie in einem Elfmeterschießen im WM-Viertelfinale: dass man nicht über sich hinauswachsen muss, um erfolgreich zu sein, sondern einfach das bringt, was man kann. Ein guter Schütze bringt den Ball eben leichter im Tor unter als einer, der weiß, dass er von zehn Elfmetern in der Regel nur drei aufs Tor bringt.
Jetzt gibt Jürgen Klinsmann die Reihenfolge der Schützen bekannt.
Oliver Neuville, der kurz vor der Verlängerung erst eingewechselt wurde, beginnt. Dann sind Ballack, Podolski, Bo-rowski und Schneider vorgesehen. Ich bin Schütze Nummer sechs, für den Fall, dass bis dahin nichts entschieden ist, nach mir wären Mertesacker, Friedrich, Metzelder, Odonkor und Jens Lehmann an der Reihe.
Der Schiedsrichter holt die Kapitäne beider Mannschaften zu sich. Jetzt wird ausgelost, auf welches Tor geschossen wird und wer beginnt. Wir gewinnen das Los. Wir schießen als Erste. Wir legen vor.
Unbemerkt von den meisten Spielern hockt sich jetzt Oliver Kahn zu Jens Lehmann und wünscht ihm Glück. Das ist dem Oli bestimmt nicht leichtgefallen, aber es zeigt, dass die Mannschaft eine Mannschaft ist, dass am Ende des Tages auch Erzrivalen einander nicht die Pest an den Hals wünschen, sondern Zusammenhalten. In solchen Momenten zeigt sich die Größe eines Sportlers, wächst ein Sportler über seine Rolle auf dem Spielfeld oder zwischen den Pfosten hinaus, verströmt einen Geist, der den Spitzensport wertvoll macht und beispielhaft.
Ich bin inzwischen auf dem Weg in den Mittelkreis. Die Regel sagt, dass sich die Mannschaft während des Elferschießens dort aufhalten muss. Es ist ein Kreis des Zitterns, kann man anders nicht sagen. Man steht dort drinnen, umgeben von den Kollegen, man spricht kein einziges Wort. Nur im Kopf formen sich Worte, Gedanken. Der geht rein, rein, rein, J aaaa. Den hält er, hält er, scheiße, nein.
Jens Lehmann bekommt den berühmten Zettel zugesteckt, auf dem die Elfergewohnheiten der argentinischen Spieler stehen. Diese Informationen sind Standardinformationen. Jede vernünftige Mannschaft weiß über ihre Gegner in allen Details Bescheid, dazu zählt natürlich auch die Elferstatistik. Jens steckt sich den Zettel in den Stutzen, er holt ihn dann vor jedem Schuss eines Argentiniers heraus, was ihm als epochale
Kriegslist ausgelegt werden wird. Die Informationen selbst sind dabei nicht entscheidend. Zwei Schützen sind gar nicht auf dem Blatt verzeichnet, und einer schießt in die andere als in die gewohnte Ecke. Aber die Story um Jens Lehmanns geheimen Zettel wird Karriere machen.
Die Mannschaft stellt sich in einer Reihe auf, wie beim Abspielen der Hymnen. Ich stehe ganz rechts, links neben mir David Odonkor.
Oliver Neuville haut ihn rechts oben rein, als wäre er auf dem Trainingsplatz.
Julio Cruz gleicht aus, oben links, ebenso souverän.
Michael Ballack. Hammerscharf in die Mitte, kein Wackler.
Ayala schießt viel zu leicht nach rechts unten, Lehmann kann den Ball sogar festhalten.
Wow. Tanz im Mittelkreis. Schnelle Umarmungen. Aber noch ist nichts gewonnen.
Podolski. Die Sicherheit, mit der er den Elfmeter reinhaut, muss die Argentinier zur Verzweiflung bringen. Sie dürfen nicht mehr verfehlen, und unsere Schützen treffen, ohne dass sie auf das kleinste Quäntchen Glück zurückgreifen müssen.
Maxi Rodriguez bringt den Ball ins Tor, aber wieder ist Jens Lehmann mit der Hand dran und bekräftigt die Botschaft, die jeden Argentinier verunsichern muss: Hier ist ein Torwart, der Elfmeter rausfischt. Hier ist ein Torwart, groß und ruhig, der an sich glaubt, der die Überzeugung verströmt, dass er mindestens einen Elfmeter hält, und das macht jeden Schuss um eine Spur schwieriger, und diesen Vorteil nehmen wir mit, diesen Trumpf spielen wir aus
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