Der feine Unterschied
offen, Del Piero macht nach schnellem Konter das 2:0, ein Tor, an das sich niemand mehr erinnert, weil das Spiel schon durch Grossos 1:0 entschieden war, dann der Schlusspfiff, und zum ersten Mal bei dieser WM ist es ruhig im Stadion, herrscht eine trübe Sekunde lang Betretenheit.
Es gibt nichts Schlimmeres, als nach einer Niederlage in einem so wichtigen Spiel noch auf dem Spielfeld zu stehen. Da ist diese Traurigkeit, diese innere Kälte, das Bewusstsein, welche Chance du gerade verpasst hast, dass du in deinem Leben nur ganz selten eine Chance wie diese haben wirst, und jetzt ist sie versemmelt, und während du gerade noch Teil der Mannschaft warst, Puzzlestein im Kollektiv, bist du jetzt nur noch du selbst, und du willst nirgendwohin außer in dein Schneckenhaus, in die Kabine und dort den Fußboden anstarren, bis es irgendwann nicht mehr so wehtut.
Aber ich höre, wie der Applaus zurückkommt. Ich sehe, wie die Menschen auf den Tribünen aufstehen und applaudieren. Das ist außergewöhnlich, nach jedem normalen Spiel, das verloren geht, sind die Fans weg, verschwunden, aber unsere Fans stehen und jubeln, und ihr Jubel gilt nicht den siegreichen Italienern, sondern uns, und das dringt selbst durch den Schleier der Enttäuschung zu mir durch, und ich klatsche zurück, und es tut trotzdem weh, und es ist auch ein bisschen schön, aber dann gehe ich in die Kabine, da hat sich die Enttäuschung ihr Terrain schon wieder zurückerobert.
In der Kabine Totenstille.
Jeder hockt vor seinem Spind und hängt irgendwelchen Gedanken nach, die alle um denselben Satz kreisen: Wir waren so nahe dran. Wir waren so nahe dran.
Es sind die Physiotherapeuten, die nach einer ewig langen Schweigeminute durch die Kabine gehen und uns aufrichten, indem sie mit ihren Handgriffen beginnen wie nach jedem Spiel, aber das war nicht jedes Spiel, und die Stille beginnt erst zu bröckeln, als irgendwer einen lauten Ruf loslässt.
»Jungs, die Kanzlerin kommt.«
Oliver Bierhoff möchte sichergehen, dass keiner von uns im nächsten Augenblick nackt aus der Dusche kommt.
Die Tür geht auf, und der Tross der Kanzlerin eilt zur Tür herein. Dass wichtige Menschen immer in Eile sein müssen!
Kurze Ansprache der Kanzlerin. Schade, dass Sie verloren haben, meine Herren. Aber Sie dürfen auf das, was Sie erreicht haben, sehr stolz sein. Sie haben für eine Stimmung im Land gesorgt, die in Deutschland noch nie da gewesen ist.
Schon. Aber gerade haben wir verloren.
Noch am selben Abend fliegen wir zurück nach Berlin. Das Quartier sieht anders aus als vor zwei Tagen, als wir es zuletzt verlassen haben. Die Zimmer warten darauf, geräumt zu werden. In den Gemeinschaftsräumen lächeln dieselben Ölschinken von der Wand wie zuvor, aber aus den Gesichtern ist die Hoffnung verschwunden, die wir dort wochenlang gesehen haben.
Manche Spieler verschwinden auf ihr Zimmer, aber ein bisschen später sind die meisten wieder da, heute fühlt es sich komisch an, alleine zu sein.
Wir sitzen genauso auf der Terrasse wie nach dem Argentinien-Spiel. Wieder sind auch die Betreuer dabei, und während wir das Italien-Spiel in seine Fasern zerlegen, während wir nach Möglichkeiten und Eventualitäten suchen, wie wir das Schicksal in eine andere Richtung zu lenken vermocht hätten, während wir unsere vergebenen Chancen noch einmal durchleiden und alle Gedanken sortieren, die Grosso am Schuss auf unser Tor hätten hindern können, ihn umlenken, auf den Mond zaubern, wächst langsam die Idee, dass wir es weit gebracht haben, dass, was wir erreichten, großartig ist.
Wenn um drei Uhr früh noch zehn zerknirschte Gesellen am Tisch saßen, ist die Enttäuschung um sechs Uhr früh nicht mehr so wach - so wie wir.
Hätte uns der Teufel vor der WM den Pakt angeboten, ihr kommt bis ins Halbfinale, verliert aber dort in der Verlängerung gegen Italien, ich glaube, jeder von uns hätte eingeschlagen.
Die WM ist für uns vorbei, und sie ist nicht vorbei. Statt im Finale in Berlin gegen Frankreich anzutreten, müssen wir nach Stuttgart, um dort im Spiel um den dritten Platz gegen Portugal zu spielen.
Boaah, Spiel um den dritten Platz. Noch nie habe ich mir ein Spiel um den dritten Platz freiwillig angeschaut. Im Quartier dreht sich die Diskussion entsprechend um etwas ganz anderes als um dieses Spiel. Sollen wir von Stuttgart noch einmal zurück nach Berlin, um uns dort noch einmal geschlossen den Fans zu präsentieren, oder bleiben wir gleich in Stuttgart und fliegen von
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