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Der feine Unterschied

Titel: Der feine Unterschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philpp Lahm
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dass wir mit seinem konsequenten Offen-siv-Spektakel in dieser Saison alle Ziele verfehlt haben, die wir uns setzten.
    Die Situation stellt sich so dar: Unsere gesamte Mannschaft denkt offensiv. Ihr Grundgefühl besteht darin, dass unsere Stürmer sowieso ein, zwei Tore pro Spiel machen.
    Darunter bricht die Defensive fast zusammen. Der Trainer lässt uns immer wieder Spieleröffnung trainieren. Sobald der Torhüter den Ball hat, müssen die beiden Innenverteidiger an den Strafraumecken stehen, um anspielbar zu sein. Damit stehen sie etwa vierzig Meter weit auseinander. Aber das Training sieht keinen Ballverlust vor. In dieser Saison haben wir in der Spieleröffnung aus diversen Gründen oft den Ball verloren. Das macht es dem Gegner einfach, zu Torchancen zu kommen -und das ist nur ein Beispiel für unsere Fragilität.
    Ich weiß nicht, wie viele Tore wir in solchen Situationen bekommen haben, weil unser System dieses Risiko befördert.
    Bei mehreren Gelegenheiten spreche ich das Thema beim Trainer an. Er spricht gern und viel mit mir, aber am Ende entscheidet er immer so, wie er es für richtig hält. Und er hat weder Zweifel an sich noch an seinem System.
    Ein guter Trainer verfügt über Autorität und eine Ausstrahlung, um seine Ideen auf die Mannschaft zu übertragen. Aber die Zeit der Trainer, die mit ihren Spielern nur reden, um ihnen Befehle zu erteilen, ist vorbei. Ein moderner Trainer muss seine Mannschaft zwar führen, aber er darf sie nicht gegen den Willen der Spieler zu einer Spielweise verpflichten, die der Mannschaft nicht angemessen ist. Die Autorität des Trainers kann nur im Dialog mit den Spielern entstehen, die seine Ideen auf dem Spielfeld Wirklichkeit werden lassen. Ein taktisches System ist am Ende nur so gut, wie die Spieler es ausführen können, und die große Kunst des modernen Trainers besteht darin, eine Spielweise zu entwickeln, die seinem Personal angemessen ist. Konstanz und Verlässlichkeit sind die Merkmale einer Mannschaft, in der jeder Spieler weiß, welche Aufgaben er zu übernehmen hat und wie er seine persönlichen Stärken in das System einbringen kann.
    In der Abwehr des FC Bayern kehren aber während der gesamten Saison 2010/11 keine Konstanz und keine Verlässlichkeit ein. Der Einzige, der immer auf seiner Position spielt, bin ich. Sowohl in der Innenverteidigung als auch links in der Verteidigung werden ununterbrochen verschiedene Spieler aufgestellt. Manchmal folgt der Trainer dabei seinem Instinkt, manchmal wird er durch äußere Einflüsse zu Veränderungen gezwungen. Tatsache ist, dass die Defensive komplett verunsichert ist.
    Ich muss auf diese Verunsicherung reagieren, indem ich in dieser Phase immer auf Nummer sicher spiele und keinen Ballverlust riskiere. Wo ich sonst gern schnell und direkt nach vorne gespielt habe, entscheide ich mich jetzt dafür, zurück zum Innenverteidiger zu passen, damit unser Spiel wieder etwas an Ruhe und Selbstverständlichkeit gewinnt. Und damit ich die Verunsicherung der Mannschaft nicht noch steigere, indem sie Ballverluste von mir mit ansehen muss. Oft genug muss ich mir nach solchen Spielen anhören, dass ich schon inspirierter Fußball gespielt hätte als jetzt.
    Auch dieses manchmal unspektakuläre Spiel gehört zur Verantwortung, die du als Führungsspieler trägst. Wenn Basti oder ich einen Fehlpass spielen, wundern sich die anderen Spieler. Wenn wir einen zweiten spielen, schrillen die Alarmglocken -was ist denn heute los?
    Wir Führungsspieler müssen vor allem ausstrahlen, dass wir unsere Positionen im Griff haben und dass wir in der Lage sind, Balance in die Mannschaft zu bringen. Defensive und Offensive müssen in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen. Erst die Sicherheit, hinten gut zu stehen, befördert das Selbstbewusstsein, dass vorne etwas gelingen kann. Was von einem Spiel in Erinnerung bleibt, sind die außergewöhnlichen Momente, die während der 90 Minuten auf dem Platz passieren. Mindestens so wichtig ist aber die Arbeit, die scheinbar unsichtbar passiert: nennen wir sie die gewöhnlichen Momente. Sie befinden sich wie bei einem Eisberg zu 95 Prozent unter der Oberfläche.
    Nur auf der Basis von vielen gelungenen, gewöhnlichen Momenten kann die Sicherheit ins Team zurückkehren, ohne die keine Mannschaft spielerische Feuerwerke abbrennen kann. Dafür braucht es aber auch ein Spielsystem, das zwischen Offensive und Defensive ausbalanciert ist, das die Risiken, Gegentore zu kassieren, ausschaltet und

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