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Der feine Unterschied

Titel: Der feine Unterschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philpp Lahm
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ausgeschieden, dass bereits mehrere Nachrufe auf Louis van Gaal geschrieben werden - der erste, als wir in der Gruppenphase nach vier Spielen gerade einmal vier Punkte gesammelt haben, zweimal in Folge gegen Bordeaux verlieren und nahezu aussichtslos hinter Bordeaux und Juventus auf dem dritten Gruppenplatz liegen.
    Nur das nicht. Der Dritte nach der Gruppenphase wird automatisch in die Europa League strafversetzt.
    In Situationen wie dieser flüchtet man gern zum Taschenrechner. Solange es in der Theorie noch eine Chance gibt - so die gängige Phrase solange gibt man diese Chance auch nicht verloren und haut sich rein, mit allem, was man hat.
    Wir spielen zu Hause gegen Maccabi Haifa, den israelischen Meister, der noch keinen Punkt auf dem Konto hat. Die Rechnung sagt, dass wir so hoch gewinnen können, wie wir wollen, wenn Juventus im Parallelspiel in Bordeaux gewinnt, sind wir ausgeschieden. Aber Juventus gewinnt nicht, sondern verliert glatt 0:2, während wir uns gegen den vermeintlichen Punktelieferanten einmal mehr sauschwer tun und durch ein Tor von Ivica Olic denkbar knapp 1:0 gewinnen.
    Während in den Zeitungen von »Arbeitssieg« und einer angeblichen »Verunsicherung« der Mannschaft die Rede ist, sind wir fürs Erste enorm erleichtert. Im letzten Gruppenspiel gegen Juventus in Turin können wir mit einem Sieg alles klarmachen. Sagt der Rechner. Und der Rechner ist, wie wir schon bei mancher Gelegenheit erfahren haben, unbestechlich, um nicht zu sagen: weise.
    So leicht ist es allerdings nicht, in Turin zu gewinnen. Juventus ist das Paradebeispiel einer italienischen Mannschaft - mit allen italienischen Qualitäten. In der Abwehr gut organisiert, geduldig, daran gewöhnt, abzuwarten und zu schauen, wie sich das Spiel entwickelt.
    Außerdem reicht Juve ein Unentschieden, um die nächste Runde zu erreichen, während wir gewinnen müssen. Die Ausgangsposition für uns ist, um es ganz klar zu sagen, sauschwierig.
    Der Trainer reagiert, indem er seine geliebte Offensivtaktik an die Verhältnisse anpasst. Wir sollen etwas zurückgezogener stehen, etwas abwartender das Spiel eröffnen. Man muss den italienischen Kontermeistern ja nicht absichtlich in die Karten spielen. Das erweist sich als super Entscheidung.
    Das Spiel beginnt jedoch anders, als wir es erwartet haben.
    Juventus drückt aufs Tempo, spielt Angriffsfußball, und anstatt hinten Beton anzurühren und auf ein 0:0 zu spekulieren, haben die Italiener offenbar das Gefühl, dass sie uns wegspielen können, und deshalb haben wir im Gegenzug schon ganz am Anfang ganz ordentliche Chancen, bekommen Platz für Konter und treffen nach einer scharfen Hereingabe von van Bommel den Pfosten.
    Aber in Führung geht Juventus. Schneller Angriff, tolle Ballannahme von Trezeguet, und dann klingelt es bei uns. 1:0 für Juve. Jetzt, denke ich mir, wird es ganz schwer. Im Fernsehen stöhnt der Kommentator: Jetzt wird es ganz, ganz schwer.
    Aber zehn Minuten später wird Olic im Strafraum gelegt, und Hans Jörg Butt verwandelt den Elfmeter trocken. Im Tor von Juve steht immerhin Gianluigi Buffon, der beste Torhüter Italiens, aber Butt bleibt cool, und obwohl unser Trainer es nicht leiden kann, wenn Torhüter Elfmeter schießen, weil er findet, dass das nichts Positives über unsere Feldspieler erzählt, steht er jetzt in der Coachingzone und jubelt, Ausgleich, alles offen, Neustart.
    Nach der Pause dasselbe Bild wie zu Beginn: Juve sucht die Entscheidung, wir bekommen Platz, um zu kontern. Und wie wir kontern. Ivica Olic staubt einen Kopfball von Mario Go-mez, den Buffon nur abklatschen kann, zum 2:1 ab, und dann überfällt plötzlich Juve das große Zittern. Sie müssen jetzt angreifen, den Ausgleich machen, aber sie sehen, dass wir gefährlich dagegenhalten, und so entscheiden sie sich für ein inspirationsfreies Weder-noch. Weder stehen sie hinten drinnen, noch setzen sie auf totale Offensive.
    Von einer Minute auf die andere haben wir das Spiel im Griff, zeigen Präsenz auf dem Platz, sind aggressiv und nicht zu erschüttern, und als Juve zehn Minuten vor Schluss auf totalen
    Angriff umschaltet, weil Juve umschalten muss, um überhaupt noch eine Chance zu haben, macht Mario Gomez das 3:1 und die Sache ist gegessen, und dass Tymoshchuk in der Nachspielzeit noch den Ehrgeiz entwickelt, Buffon aus dem Tor zu schießen und dabei das 4:1 erzielt, ist nur noch eine fantastische Draufgabe auf eine fantastische Story.
    Wir waren tot, aber jetzt leben wir, und wie wir leben!

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