Der feine Unterschied
noch übersetzen sich die Fortschritte, die ich im Training beobachte, nicht in die angemessenen Resultate. Wir sind nach sieben Spieltagen genauso weit von der Tabellenspitze entfernt wie unter Jürgen Klinsmann. Aber welcher Unterschied! Bei van Gaal passiert vieles, was im modernen Fußball einfach passieren muss. Er spricht mit der Mannschaft, stellt sie minutiös auf jeden Gegner ein. Wir sehen Videos unserer Gegner, um ihre speziellen Stärken und Schwächen kennenzulernen. Wir schauen uns die eigenen Spiele an und analysieren, welche Fehler wir gemacht haben. Wir diskutieren, wie jede einzelne Position interpretiert werden soll, wie das Spiel der ganzen Mannschaft zusammenhängt. Wir arbeiten daraufhin, dass unsere Philosophie für alle Beteiligten selbstverständlich wird.
Ich hatte so präzise Arbeit noch bei keinem Trainer erlebt, mit dem ich arbeitete - ausgenommen Jogi Löw in der Nationalmannschaft. Ich bin überzeugt, dass diese Arbeit zwangsläufig zum Erfolg führen wird - wenn der Trainer und die Mannschaft die Zeit bekommen, zusammenzufinden.
Es wird Oktober. In der Meisterschaft haben wir einige Punkte zu viel Rückstand auf die Spitze. In der Champions League stehen wir vor dem Aus in der Gruppenphase - doch so seltsam es klingt, ich spüre, dass nur noch ganz wenig fehlt.
Der Vorstand teilt meine Einschätzung nicht unbedingt. Die Gespräche, in denen ich meine Meinung sagen konnte, haben zuletzt nicht mehr stattgefunden. Ich denke darüber nach, wie ich das komplizierte Themengemenge — der besorgte Vorstand, der eigenwillige Trainer und die Fortschritte, die sich noch nicht in Resultate übersetzen - so anpacken kann, dass sie nicht nur als Einzelmeinung eines Spielers erscheinen.
Ich weiß, ich muss Farbe bekennen. Der Zeitpunkt, über die Probleme des FC Bayern zu diskutieren, ist gekommen. Ich kenne die Abläufe in unserem Verein, und ich entscheide mich dafür, zu handeln und nicht zuzusehen, wie ein Experiment womöglich vor der Zeit beendet wird.
Ich denke, dass ein ausführliches Interview in einer anspruchsvollen Zeitung ideal wäre, um die Situation, in der sich der FC Bayern gerade befindet, fundiert zu analysieren.
Ein heikles Thema, gewiss. Interviews müssen gewöhnlich über die Pressestelle des FC Bayern organisiert werden. Doch für das, was ich vorhabe, bekomme ich mit Sicherheit keine Genehmigung.
Das Gespräch erscheint in der »Süddeutschen Zeitung« auf einer ganzen Seite. Der Titel lautet: »Ja, der Trainer hat recht«. Meine Kernthesen sind, dass der FC Bayern eine fußballerische Identität braucht, eine Philosophie, die das Spiel prägt. Ich fordere Mittelfeldspieler, die stets anspielbar sind, und eine Einkaufspolitik, die sich nach der Philosophie richtet, die dem Spiel des FC Bayern zugrunde liegt. Kernsatz: »Man darf Spieler nicht nur kaufen, weil sie gut sind.«
Ich stelle mich in dem Interview hinter den Trainer, weil ich finde, dass er zu diesem Zeitpunkt das Richtige für den FC Bayern tut. Ich exponiere mich, weil mir der Verein am Herzen liegt. Ich denke dabei mehr als einmal an Uli Hoeneß und seine unvergleichliche, überbordende Leidenschaft für den FC Bayern. Würde Uli Hoeneß das Gleiche tun, wenn er in meinen Schuhen stände? Ja, denke ich mir. Gerade er ist auch keinem Kampf ausgewichen, wenn es um die Sache ging, und wer, wenn nicht Hoeneß, weiß, welch scharfe Waffe für das eigene Anliegen die Öffentlichkeit ist?
Die Zeitung erscheint am Samstag, als wir gegen Schalke spielen, und es herrscht Ausnahmezustand. Ich versuche erst mal, mich ganz auf das Spiel am Nachmittag zu konzentrieren. Frühstück, Training, Ruhe. Als ich aufs Spielfeld laufe, weiß ich, dass ich heute besser eine gute Leistung abliefere. Einem, der den Mund so weit aufmacht, wird besonders aufmerksam auf die Beine geschaut.
Wir spielen aber nicht gut. Die Partie endet nach eher durchschnittlichen Darbietungen 1:1.
Schon in der Pause kommt der Pressesprecher des FC Bayern zu mir und bittet mich, nach dem Spiel nicht durch die Mixed Zone zu gehen, wo wir Spieler normalerweise die Berichterstatter treffen und über das Spiel sprechen.
Ich habe nichts anderes erwartet. Dem Verein reicht ein kritisches Philipp-Lahm-Interview.
Gleichzeitig weiß ich, dass ich mein Ziel fürs Erste erreicht habe. Die Themen sind in Umlauf. Sie werden diskutiert. Je heftiger sie in der Öffentlichkeit diskutiert werden, desto früher wird sich auch der Vorstand damit beschäftigen
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