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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Männer mit gezückten Schwertern, der erschrockene Dauphin, der auf seinem Bett kauert, die blutigen Leichen der Marschälle zu seinen Füßen.
    Die Leichen wurden in den Palasthof geschleppt und dort zur Schau gestellt, während Marcel zur Place de Grève eilte, wo er von einem Fenster aus eine Ansprache an das Volk hielt, das er aufforderte, seine Tat zu sanktionieren. Es sei zum Wohle des Königreiches geschehen, sagte er, um die »falschen, verderbten und verräterischen Ritter« zu entfernen. Mit einstimmigem Jubelgeschrei begrüßte der Mob den Anschlag und versprach dem Vorsteher Gefolgschaft »auf Leben und Tod«. Sofort kehrte Marcel zum Palast zurück, um dem Dauphin jene ewige Rechtfertigung zu präsentieren: sein Vorgehen sei der »Wille des Volkes«. Um seine Einigkeit mit dem Volk zu demonstrieren, solle der Prinz die Tat gutheißen und allen Beteiligten Straffreiheit zusichern. »Bekümmert und erschüttert« erkannte der Prinz die Warnung, die die Leichen im Hof seines Palastes beredt ausdrückten. Er bat den Vorsteher, dem Volk von Paris zu sagen, daß es sein Freund sein möge, wie er Freund des Volkes sein wolle, und empfing aus Marcels Händen roten und blauen Stoff, um daraus für sich und seine Offiziere Mützen in den Farben der Volkspartei machen zu lassen.
    Der schreckliche Anschlag, der im Grunde auf ihn selbst zielte, sollte den Dauphin so weit einschüchtern, daß er der Herrschaft des Rats der Stände zustimmte. Statt dessen härtete er den Willen unter der trügerischen Schwäche, die der Prinz nach außen zeigte. Aber alles, was er zunächst tun konnte, war, seine Familie in die Sicherheit der nahe gelegenen Festung Meaux an der Marne zu schicken und selbst seinen Wohnsitz nach Senlis zu verlegen. Nun, da Gewalt gegen die Krone und gegen den Adel in Gestalt der beiden Marschälle angewendet worden war, weitete sich der Konflikt
von einer politischen Auseinandersetzung in einen offenen Kampf aus. Die Ausgangslage aber war entscheidend verändert: Der Mord an den beiden Marschällen kostete Marcel auch die letzte Unterstützung der Reformen von seiten des Adels. Die Tat überzeugte die Adligen, daß ihre Interessen bei der Krone lagen.
     
    Im Mai 1358 löste eine Maßnahme des Thronfolger-Regenten den blutigen Bauernaufstand aus, der unter dem Namen Jacquerie bekannt geworden ist. Enguerrand de Coucy, nun achtzehn Jahre, spielte dabei eine aktive und prominente Rolle. In der Absicht, Marcel durch eine Blockade von Paris zu treffen, wies der Regent die Adligen, deren Ländereien an den Flüssen lagen, an, ihre Burgen mit Vorräten zu versehen und zu verstärken. Einer Überlieferung zufolge beschlagnahmten sie zu diesem Zweck das Eigentum der Bauern und provozierten so den Aufstand. Nach einem anderen Chronisten stiftete Marcel die »Jacques«, wie die Bauern genannt wurden, zum Aufruhr an, indem er ihnen sagte, der Befehl des Dauphins sei gegen sie gerichtet und nur das Vorspiel für neue Unterdrückung und Plünderung. Aber die »Jacques« selbst hatten Gründe genug. [Ref 138]
    Wer war dieser Bauer, der wie ein gebeugter Atlas die drei Stände der mittelalterlichen Welt auf seinem Rücken trug und der nun Schrecken in die Reihen der Herrschenden trug? Stupsnasig und rauh im einfachen langen Kittel mit Gürtel zeigen ihn Steinreliefs und Buchillustrationen, die die zwölf Monate des Jahres darstellen, wie er mit einem Leinensack über der Schulter die Saat ausbringt, wie er in der Hitze des Sommers in offener Bluse und Strohhut mit der Sense das Heu mäht, wie er zwischen seinen Knien die Schafe schert, die Trauben in einem Holzfaß mit bloßen Füßen zerquetscht, die Schweine im Forst hütet, in Hut und Schaffellmantel winters das Holz für das Feuer holt und sich im Februar am Feuer seiner niedrigen Hütte wärmt. An seiner Seite auf dem Feld bindet die Bauersfrau die Garben. Sie trägt einen langen Rock aufgesteckt im Gürtel, um sich freier bewegen zu können, und ein Kopftuch anstelle des Hutes.
    Wie jede andere gesellschaftliche Gruppe war auch die der Bauern sehr uneinheitlich. Ökonomisch gesehen reichte ihr Stand vom
halbwilden Armen bis zum Eigner von Feldern und Federbetten, der genug Geld anhäufte, um seinen Sohn auf die Universität zu schicken. Villein oder Vilain war die geläufige Bezeichnung für den Bauern, die im Laufe der Zeit eine geringschätzige Bedeutung angenommen hatte. Weder Sklave noch völlig frei, gehörte der Villein zum Besitz seines Herrn. Er war

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