Der ferne Spiegel
verpflichtet, Pacht zu zahlen oder Dienste zu leisten, wofür er als Gegenleistung Schutz und Gerechtigkeit beanspruchen konnte. Ein Leibeigener war jemand, der im Sinne eines persönlichen Abhängigkeitsverhältnisses einem bestimmten Herrn von Geburt an gehörte. Damit auch die Kinder dem Herrn gehörten, war es einem solchen Mann durch das Gesetz der formariage verboten, eine Frau von außerhalb der Domäne seines Herrn zu nehmen. Starb er kinderlos, so fielen sein Haus, Werkzeuge und alle anderen Besitztümer wieder an den Herrn zurück, weil sie formal nur als Leihgaben des Herrn galten. Ursprünglich schuldete der Leibeigene seiner Herrschaft neben den landwirtschaftlichen Arbeiten Dienstleistungen aller Art, die auf dem Gut anfielen: Straßen- und Brückenbau, Schmiedearbeiten, Feuerholzbeschaffung, Wäsche, Spinnerei- und Webereiarbeiten. Aber viele dieser Aufgaben wurden seit dem 14. Jahrhundert durch Lohnarbeiter verrichtet, und der Bedarf der Burg wurde zum großen Teil durch Einkäufe in der Stadt und bei Händlern gedeckt, so daß ein großer Teil der Bauern auf der Basis von Pachtzahlungen die Felder bewirtschaftete und zusätzlich eine bestimmte Anzahl von Tagen im Jahr auf den Feldern des Gutsherrn zu arbeiten hatte.
Neben der Haushaltssteuer hatte der Bauer den Kirchenzehnten, Beiträge zu Lösegeldern für seinen Herren, für die ritterliche Ausbildung des Herrensohnes und die Mitgift der Tochter zu entrichten. Er mußte Gebühren für alles zahlen, was er benutzte: für die herrschaftliche Mühle, den Backofen, die Apfelmostpresse und natürlich auch für das herrschaftliche Gericht. Im Todesfall schuldete er seinem Herrn den Hauptfall, die Übergabe seines kostbarsten Besitzes an den Herrn.
Seine landwirtschaftliche Arbeit verrichtete er unter Bedingungen, die den Herrn bevorteilten, dessen Felder gepflügt, gesät, abgeerntet und vor Sturm geschützt wurden, bevor der Bauer sich seinen eigenen widmen konnte. Er mußte sein Vieh zum Weiden
über die Felder des Herrn treiben, damit der Dung der Tiere dem Herrn zugute kam. All diese Voraussetzungen und Abgaben sicherten dem Besitzer den Löwenanteil am Mehrwert der Landarbeit. Dieses System wurde von der Kirche gestützt, deren natürliche Interessen sie eher an die Seite der Starken als der Schwachen trieb. Sie lehrte, daß Nachlässigkeit im Dienst des Gutsherrn und Ungehorsam in der Hölle bestraft würden und daß Säumigkeit bei der Zahlung des Zehnten die Seele in Gefahr brächte. Der Priester übte ständig Druck aus, um den Zehnten in Naturalien einzutreiben: Korn, Eier, ein Huhn oder ein Schwein, was, wie er sagte, eine Steuer war, die der Bauer Gott schuldete. Das alltägliche Leben überwachte der Büttel des Gutsherrn, dessen Amtsanmaßungen und Erpressungen eine Quelle ständiger Beschwerden waren. Der Büttel hatte fast unbegrenzte Macht über die Bauern, an denen er sich häufig rücksichtslos bereicherte.
Der Besitz eines Pfluges, der 10 bis 12 Pfund kostete, und eines Arbeitspferds, für das man 8 bis 10 Pfund zahlen mußte, machte den Unterschied zwischen einem wohlhabenden Bauern und einem, der gerade überleben konnte. Diejenigen, die sich keinen Pflug leisten konnten, mieteten einen oder brachen die Erde mit Hacke und Spaten um. Vielleicht 75 bis 80 Prozent der Bauern lagen unter dieser »Pfluggrenze«. Von diesen besaß etwa die Hälfte ein paar Morgen Land und führte ein einigermaßen gesichertes Leben, während die andere Hälfte immer am Rande des Existenzminimums lebte; sie bestellten kleine Parzellen, deren Ertrag sie durch bezahlte Arbeit für den Herrn oder für reichere Nachbarn aufzubessern versuchten. Die ärmsten 10 Prozent lebten im Elend von Brot, Zwiebeln und ein paar Früchten, schliefen auf Strohsäkken in einer unmöblierten Hütte, die als Rauchabzug nur ein Loch im Dach hatte. Sie hatten nicht einmal den Status von Leibeigenen, sie waren das neue ländliche Proletariat, das die Umstellung des alten herrschaftlichen Systems auf frühkapitalistische Formen erzeugte. [Ref 139]
Wie groß die Zahl der wohlhabenden Bauern war und wie viele arm waren, ist nur über die Güter einzuschätzen, die sie ihren Nachkommen vererbten, und da die Ärmsten nichts zu vererben hatten, bleiben sie stumm. Schwieriger als bei jeder anderen Klasse
ist bei den Bauern das berühmte Ziel des Historikers zu erreichen: zu sagen, wie es wirklich war. Jeder Aussage über die Bauern steht eine gegenüber, die das Gegenteil behauptet.
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