Der ferne Spiegel
Wahrheit! Wehe dem, der zögert!«
Ohne weitere Beratung und ohne Waffen außer den Knüppeln und Messern, die einige bei sich hatten, stürzte sich eine Gruppe von etwa hundert Bauern in einem wilden Angriff auf das nächstgelegene Herrenhaus; sie brachen ein, töteten den Ritter, seine Frau und seine Kinder und brannten das Gebäude nieder. Danach, so schreibt Froissart, dessen Darstellung der Jacquerie sehr wahrscheinlich auf den Erzählungen von Adligen und Geistlichen beruht, »zogen sie zu einer starken Burg weiter, banden den Ritter an einen Pfahl und vergewaltigten seine Frau und Tochter vor seinen Augen. Sie töteten die Frau, die schwanger war, danach seine Tochter, dann alle Kinder und zuletzt den Ritter selbst und verbrannten und zerstörten die Burg.« Andere Quellen berichten von vier Rittern und fünf Knappen, die in dieser Nacht starben. Im Handumdrehen breitete sich der Aufstand aus und fand jeden Tag neue Anhänger. Sie kamen mit Sicheln, Heugabeln, Hackmessern und allem, woraus man eine Waffe herstellen konnte. Bald waren es Tausende – schließlich, so sagte man, hunderttausend –, die das Tal der Oise, die Ile de France, Teile der Picardie und der Champagne überschwemmten. Sie wüteten »auch im ganzen Besitz der Coucys, wo sie große Greuel begingen«. Als der Aufstand vorüber war, waren mehr als »hundert« Burgen und Herrenhäuser in den Gebieten von Coucy und Valois, der Diözesen Laon, Soissons und Senlis und mehr als »sechzig« in den Bezirken von Beauvais und Amiens geplündert und verbrannt.
Ohne organisierte Selbstverteidigung flohen die Adligen mit ihren Familien zunächst in befestigte Städte und überließen den Bauern ihr Land und ihre Häuser. Die Jacques brandschatzten und mordeten »ohne Gnade wie wütende Hunde«. Sicherlich, sagt Froissart, »haben Christen oder gar Sarazenen noch nie solche Greueltaten begangen wie diese verderbten Menschen, Verbrechen, die kaum ein Mensch auszudenken oder anzusehen wagt«. Das Beispiel, das er zitiert, stammt aus der älteren Chronik des Jean le Bel und erzählt von einem Ritter, den die Jacques »vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder töteten und auf einem Spieß rösteten. Nachdem sich dann zehn oder zwölf von ihnen an der
Frau vergangen hatten, zwangen sie sie, einiges von dem Fleisch ihres Mannes zu essen, und töteten sie dann.« In den späteren Berichten immer wieder aufgegriffen, wurde diese eine Geschichte zur Hauptstütze der Greuelgeschichten über den Aufstand. In den registrierten Anklagen nach den Ereignissen war nur noch die Rede von dreißig Toten (unter denen sich kein gerösteter Ritter befand).
Die »Jacques« hatten sich mehr auf Räuberei und Plünderung geworfen als auf Mord. Eine Gruppe war direkt in den Geflügelhof gelaufen, hatte so viele Hühner wie möglich gefangen, Karpfen aus dem Teich gefischt, Wein aus den Kellern geholt und auf Kosten des Herrn ein großes Fest gefeiert. In Bezirken, in denen der Haß auf die Geistlichkeit dem auf den Adel glich, führten die Jacques auch Krieg gegen die Kirche. Die Mönche zitterten in ihren Klöstern, die Säkularkleriker flohen in die Städte.
In der Person des Guillaume Karle oder Cale wuchs den Jacques ein Führer zu. Er wird als starker, gutaussehender Picarde beschrieben, der eine natürliche Beredsamkeit besessen haben soll und Kriegserfahrung hatte, was die Jacques brauchten. Er richtete einen Kriegsrat ein, der unter einem offiziellen Siegel Befehle aussandte, Anführer ernannte und jeder Zehnergruppe einen Vormann zuteilte. Cales Männer schmiedeten Sicheln und Sensen zu Schwertern um und nähten provisorische Rüstungen aus hartem Leder zusammen. »Montjoie!« wählte Cale zu seinem Schlachtruf, und die Banner waren mit Lilien besetzt, um deutlich zu machen, daß sich der Aufstand gegen den Adel, nicht gegen den König richtete. Cales Hoffnung war es, in seinem Kampf gegen den Adel die Städte als Bundesgenossen zu gewinnen. Tatsächlich waren sich die beiden Bewegungen, die bäuerliche und die bürgerliche, in der Stoßrichtung gegen den Adel einig. Nur wenige Städte des Nordens »waren nicht gegen die vornehmen Herren«, schreibt der Mönch von St. Denis, der Die Chronik über die Regierungszeit von Johann II. und Karl V. verfaßte, aber viele von ihnen fürchteten und verachteten die Jacques. Die kleineren Bürger sahen aber in dem Bauernaufstand einen allgemeinen Krieg der einfachen Leute gegen den Adel und die Geistlichkeit. Städte wie
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