Der ferne Spiegel
praktischen Frage schließt: »Kann die Kriegskunst in den Spielen und Jagden erlernt werden, mit denen ihr eure Jugend verbringt?«
Der Mönch hat auch harte Worte für die einfachen Leute, »deren Gott ihr Bauch ist und die Sklaven ihrer Weiber sind«, und für die Geistlichkeit, der er die schlimmste Beschimpfung zukommen läßt. Die Männer der Kirche versinken in Luxus, Völlerei, Pomp, Ehrgeiz, Zwietracht, Neid, Gier und Streitsucht und in Säcken von Silber und Gold. Die Tugenden sterben, die Laster triumphieren, die Ehrlichkeit verschwindet, das Mitleid erstickt, die Habsucht verbreitet sich, das Chaos obsiegt, und die Ordnung verschwindet.
War das nun nur eine der traditionellen mönchischen Tiraden gegen diese Welt, oder zeigte sich hier ein tiefer Pessimismus, der die zweite Hälfte des Jahrhunderts zu verdunkeln beginnt?
Eine Freilassung König Johanns war noch immer nicht in Sicht. Eduard behandelte seinen königlichen Gefangenen mit aller Ehrerbietung, aber er war entschlossen, aus seinem Triumph das größtmögliche Kapital zu schlagen und Frankreich jeden Fetzen Land und jeden Franken abzupressen, den es für seinen König hergeben würde. Der große König Frankreichs, gefangen auf dem Schlachtfeld von Poitiers, war ein wahrhaft ungewöhnliches Unterpfand. Der Einzug des französischen Königs als Gefangener des Schwarzen Prinzen in London wurde zum Anlaß einer der größten Feiern, die England je gesehen hatte. Die Neugier des Volkes war so groß, daß der Zug mehrere Stunden brauchte, um die Stadt auf dem Weg zum Westminsterpalast zu durchqueren. Im Zentrum des Interesses stand König Johann, »der wie ein Diakon oder Schreiber ganz in
Schwarz gekleidet« auf einem weißen Pferd neben dem Schwarzen Prinzen einherritt. An den Häusern hingen erbeutete Schilde und Teppiche, und das Kopfsteinpflaster war mit Rosenblättern bestreut, als die Prozession sich an phantasievollen Prunkbildern vorbeibewegte, die eine Leidenschaft der Zeit waren. In zwölf vergoldeten Käfigen hatten Londons Goldschmiede zwölf junge Mädchen die Straße entlang aufgestellt, die mit Gold und Silber verzierte Blumen auf die Reiter warfen.
Die Sensation eines so edlen Gefangenen erhöhte den ritterlichen Rang des englischen Hofes. Weihnachten und Neujahr wurden mit besonderem Aufwand und einem glänzenden Turnier bei Nacht im Schein von Fackeln begangen. König Johann war im Savoypalast untergebracht, dem neuen Wohnsitz des Herzogs von Lancaster. Er war frei, Besuch aus Frankreich zu empfangen und alle Annehmlichkeiten höfischen Lebens zu genießen, mußte sich allerdings eine Wache gefallen lassen. Languedoc sandte eine Delegation von Bürgern und Adligen, die 10000 Goldflorins und die Versicherung überbrachten, daß ihr Hab und Gut Seiner Majestät zur Verfügung ständen. Sogar Laon und Amiens schickten Geld. Die Mystik des Königtums wirkte stark in den Untertanen – stärker als die Verantwortung der Krone in diesem König. [Ref 136]
In jener dunklen Stunde Frankreichs finden sich in Johanns Buchführung Ausgaben für Pferde, Hunde, Jagdfalken, ein Schachspiel, eine Orgel, eine Harfe, eine Uhr, ein rehbraunes Reitpferd, Wildbret und Walfleisch aus Brügge, teure Kleidung für seinen Sohn Philipp und seinen Lieblingsnarren, der verschiedene hermelinbesetzte und goldgeschmückte Hüte erhielt. Johann unterhielt einen Astrologen, einen »Sängerkönig« samt Orchester, inszenierte Hahnenkämpfe, ließ Bücher kostbar binden und verkaufte Wein und Pferde, die er von der Languedoc als Geschenk erhalten hatte. Der Erfolg dieses Unternehmens verleitete ihn dazu, mehr von beidem aus Toulouse zu importieren und einen schwunghaften Handel in Gang zu bringen. Als Jules Michelet, Frankreichs lebhaftester, wenn auch nicht objektivster Historiker, fünfhundert Jahre später die Abrechnungen des Königs aus dieser Zeit las, sagte er, sie machten ihn krank. Die Verhandlungen um das Lösegeld des Königs und einen langfristigen Friedensvertrag
scheiterten an Eduards maßlosen Forderungen. Er verlangte die Abtretung Aquitaniens, Calais’ und aller früheren Besitztümer der Plantagenets in Frankreich, dazu die unvorstellbare Summe von 3 Millionen Écus als Lösegeld für Johann. Als Gegenleistung wollte er seinen Anspruch auf die französische Königskrone aufgeben. Unter dem Druck der päpstlichen Legaten schleppten sich die Verhandlungen dahin, eine demütigende Qual für die französischen Unterhändler. Die einzige
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