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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Liebesbriefe, die ihn zu immer kühneren, wenn auch kaum ritterlicheren Taten anspornten. Er hielt die ganze Champagne und einen Teil der Picardie in seinem erbarmungslosen Griff, bis er gefangengenommen wurde, als sich die französischen Ritter der Gegend endlich zur Verteidigung zusammengeschlossen hatten. Genauso geldgierig wie er ließen sie ihn aber für ein Lösegeld von 22 000 Goldfranken wieder frei, so daß er unmittelbar darauf seinen Krieg erneuern konnte. Als Befehlshaber von zweitausend Freibeutern eröffnete er einen Handel mit eroberten Burgen, die er an ihre rechtmäßigen Besitzer teuer zurückverkaufte. Weder den Rittern des 14. Jahrhunderts noch der Gräfin Isabella von Kent scheint sein Rauben, Plündern und Morden unehrenhaft vorgekommen zu sein, denn sie heiratete ihren inzwischen reichen Helden im Jahre 1360. [Ref 134]
    Aufgrund der französischen Beschwerden, daß die englischen Kompanien den Waffenstillstand fortgesetzt verletzten, befahl ihnen König Eduard, sich aufzulösen, aber dieser Befehl war so wenig ernst gemeint, wie er ernst genommen wurde. Da die Friedensverhandlungen noch nicht abgeschlossen waren, kam der Druck, den die Briganten auf Frankreich ausübten, dem englischen König entgegen. Karl von Navarra war nicht weniger abgeneigt, weiteren Streit zu entfachen. Obwohl er noch immer im Gefängnis saß, hatte er Helfer, darunter seinen Bruder Philipp, die seine Belange betrieben. Wo sich die Truppen aus Navarra mit den englischen verbanden, waren die Verwüstungen am schlimmsten, bewußt,
wie nicht wenige glaubten, als ein Mittel, Karls Freilassung zu erzwingen.
    Zur Abwehr der Kompanien verwandelten die Dorfbewohner ihre steinernen Kirchen in Festungen, indem sie sie mit Gräben umgaben, die Glockentürme mit Wächtern besetzten und Steine bereitlegten, um sie auf die Angreifer hinunterwerfen zu können. »Die Kirchenglocken riefen die Menschen nicht mehr auf, Gott zu preisen, sondern Schutz vor dem Feind zu suchen.« Bauernfamilien, die nicht in Reichweite einer befestigten Kirche lebten, verbrachten die Nächte mit ihrem Vieh auf den zahlreichen Inseln der Loire oder auf einem Boot in der Mitte des Flusses. In der Picardie suchten sie in Höhlen Zuflucht, die noch aus der Zeit der Normannenkriege stammten. Ausgestattet mit einer Quelle und einigen Luftlöchern, boten die Höhlen zwanzig bis dreißig Personen samt ihrem Vieh Schutz.
    Bei Anbruch des Tages prüften die Wächter vom Kirchturm aus, ob die Banditen abgezogen waren und die Bauern auf ihre Felder zurückkehren konnten. Viele Familien zogen mit ihrem Besitz vom Land in die befestigten Städte, Mönche und Nonnen verließen ihre Klöster, Straßen und Wege waren unsicher, überall entstanden Räuberbanden, das ganze Land war voller Feinde. »Was soll ich noch sagen?« schreibt Jean de Venette in seinem Katalog des Elends. »Von da an befiel das französische Volk unendlicher Schaden, Unheil und Gefahr, weil es keine gute Regierung gab und keine wirkungsvolle Verteidigung.« Jean de Venette, ein Karmeliterprior und Oberhaupt des Ordens in den 1360er Jahren, war auf seiten des dritten Standes, als er seine Chronik schrieb. Er klagte den Regenten an, kein »Heilmittel anzuwenden«, und warf den Adligen vor, » alle anderen zu verachten und zu hassen und nicht an den wechselseitigen Nutzen von Herr und Gemeinen zu denken«. [Ref 135]
    Nach Venette trugen die Adligen auch die Schuld daran, daß die Generalstände in sich zerfallen waren und daher die selbstgestellten Aufgaben nicht erfüllten. »Von dieser Zeit an geriet das Königreich aus den Fugen, und der Staat war vernichtet . . . Das ganze Land Frankreich begann, Verwirrung und Trauer anzulegen wie ein Gewand, weil es keinen Beschützer hatte.« Kummer und Zorn erfüllten auch eine lateinisch geschriebene Polemik, die »Der tragische
Bericht vom elenden Zustand des französischen Königreiches« genannt wurde und von einem unbekannten Benediktinermönch verfaßt war. Beschämt über das einstmals stolze Frankreich, das seinen König im Herzen des Landes gefangennehmen und davonführen ließ, ohne einzugreifen, stellte er die kritische Frage nach der militärischen Disziplin. »Wo habt ihr die Kriegskunst gelernt? Wer waren eure Lehrer? Wo habt ihr eure Lehrzeit verbracht? « fragte er die Ritter. »War es, als ihr unter dem Banner der Venus gekämpft habt, als ihr Süße wie Milch eingesaugt habt, dem Vergnügen ergeben . . .«, und so weiter, bis er plötzlich mit der

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