Der ferne Spiegel
Möglichkeit, die sie nicht in Erwägung zogen, war die, den König nicht freizukaufen und nach Hause zu gehen, denn das hätte bedeutet, daß es keinen Friedensvertrag gab – und das geschlagene Frankreich brauchte nichts dringender als den Frieden. Vor allem aber war der König ein unverzichtbarer Ordnungsfaktor. Seit den Tagen Ludwigs des Heiligen, der mit königlicher Autorität die Privatfehden unterdrückt, dem Recht Nachdruck verliehen und die Steuern gleichmäßig verteilt hatte, war die Krone in der öffentlichen Meinung identisch mit Sicherheit und Ordnung. Alle Rückfälle seiner Nachfolger hatten nicht vermocht, das Königtum in Verruf zu bringen, und Johann, sein unwürdiger Repräsentant, wurde herbeigesehnt, als ob er der heilige Ludwig selbst wäre.
Die französischen Provinzen, die glaubten, daß ihre letzte Hoffnung im Kampf gegen die großen Kompanien die Macht des Königs sei, wollten die Monarchie um keinen Preis schwächen. Im August 1357 fühlte sich der Dauphin stark genug, die Räte in ihr Amt zurückzuholen und Marcel wissen zu lassen, daß er von nun an gewillt sei, ohne Mitsprache des »Rates der Sechsunddreißig« zu regieren. Marcel, zum Äußersten getrieben, verband sich daraufhin mit einem Mann, dessen Ziele seinen Absichten völlig zuwiderliefen.
Direkt aus dem Gefängnis in Cambrai trat Karl von Navarra in das Chaos des November 1357. Hinter seiner Befreiung standen Marcel und Robert le Coq. Navarra sollte einen Gegenkönig im Kampf gegen die Valois abgeben. In »grandioser Begleitung« von Adligen aus der Picardie und der Normandie zog er in die Hauptstadt ein. Unter ihnen war »Monseigneur de Coussi«. Enguerrand hatte mit seinen siebzehn Jahren den Treueeid seiner Vasallen entgegengenommen
und war jetzt der anerkannte Herr von Coucy. Wahrscheinlich teilte er die Unmutsgefühle der Adligen aus dem Norden Frankreichs gegen die Valois und war so unter die Anhängerschaft von Karl von Navarra geraten. Sein bemerkenswertes politisches Gespür, das er sein ganzes Leben hindurch unter Beweis stellen sollte, hielt ihn allerdings davon ab, sich längere Zeit an Karl von Navarra zu binden. [Ref 137]
Mit wunderbarer Beredtheit hielt Karl eine »mit viel Gift gewürzte« Ansprache vor einer großen Menge von Pariser Bürgern, in der er seinen Anspruch auf die französische Königskrone erwähnte, aber nicht betonte. Er sagte lediglich, daß sein Anspruch besser begründet sei als der König Eduards. Diese Herausforderung zwang den Dauphin, nach Paris zu kommen und eine Versammlung der Stände einzuberufen. Nachdem er in kürzester Zeit »zweitausend« Reisige im Louvre versammelt hatte, wandte auch er sich an das Volk. Er sandte Boten durch die Stadt, um die Bürger zu versammeln, und hielt am 11. Januar 1358 vom Rücken seines Pferdes eine Ansprache, die die Volksgunst im Handumdrehen zu seinen Gunsten umschlagen ließ. Ein Stellvertreter Marcels, der seine Stimme gegen den Königssohn erhob, wurde niedergeschrien.
Die Menschen dieser Zeit waren für das gesprochene Wort außerordentlich empfänglich, und jeder Marc Anton konnte die leichte Erregbarkeit der Zuhörerschaft ausnutzen. Man hörte damals stundenlang im Freien die Predigten großer Kirchenmänner an und betrachtete sie als eine Art populärer Unterhaltung.
Vom Erfolg des Dauphins aufgeschreckt, griff Marcel auf nackte Gewalt ganz im Stil des Karl von Navarra zurück. Anlaß war der Tod des Bürgers Perrin Marc, der den Schatzmeister des Dauphin ermordet hatte und vom Marschall des Hofes gewaltsam aus dem Asyl in einer Kirche geholt und erhängt wurde. Marcel versammelte dreitausend Handwerker und Händler, die bewaffnet waren und die rotblauen Mützen der Volkspartei trugen, und marschierte an ihrer Spitze zum Königspalast. Auf der Straße begegneten sie Regnaut d’Acy, einem königlichen Rat, begrüßten ihn mit dem Ruf »Tod!« und erschlugen ihn auf der Stelle.
Als sie den Palast erreichten, suchte Marcel mit einem Teil seiner
Begleiter den König in seinem Zimmer auf, wo sie, während Marcel vorgab, den Prinzen zu schützen, die beiden Marschälle des Dauphins vor dessen Augen erschlugen. Der eine von ihnen war Jean de Clermont, ein Sohn des bei Poitiers getöteten Marschalls, der andere war Jean de Conflans, Sire de Dampierre, ein früherer Abgeordneter der Stände, der die Reformpartei verlassen hatte und zum Dauphin übergelaufen war. Jede bebilderte Chronik der Zeit zeigt die Szene: Finster dreinschauende
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