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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Vergünstigungen einzuräumen, ergriff Urban sogar die Waffen gegen ihn. Daraufhin von Karls Truppen belagert, erstieg Urban jeden Tag viermal die Außenmauer, um die Belagerer zu exkommunizieren. Wenn er nicht schon vorher verrückt gewesen war, so
hatte ihn die Herausforderung der Kardinäle nun ganz um den Verstand gebracht.
    In zunehmendem Maße durch Urbans Wildheit und Rachsucht abgestoßen, liefen zwei von seinen Kardinälen zu Klemens über, aber die Mehrheit glaubte, bei Urban bleiben zu müssen, da die einzige Alternative die Unterwerfung unter den französischen Papst war. Sechs von ihnen planten, den verrückt gewordenen Papst in eine Art geheimer Schutzhaft zu nehmen und die Kirche durch einen Regentschaftsrat zu führen, aber Urban erfuhr von der Verschwörung und ließ die sechs verhaften. Während sie gefoltert wurden, um ihnen Geständnisse abzupressen, soll Urban nach dem Bericht eines Beobachters unter den Fenstern der Folterkammer auf und ab gegangen sein und laut aus seinem Brevier gelesen haben, während er den Schreien der Opfer zuhörte. Fünf der Kardinäle wurden später als Verschwörer hingerichtet. Der sechste, ein englischer Kardinal, überlebte aufgrund der Fürsprache Richards II. und wurde so zum Zeugen der Ereignisse. Im Laufe der Jahre wurde Urban zu einer ebenso verhaßten und verachteten Gestalt wie sein Rivale. In einer Zeit, in der zwei solche Männer die Führung der Heiligen Kirche beanspruchten, schien es, als habe Gott guten Grund, sein Haus auf Erden aufzugeben.
    Unter all den »seltsamen Übeln und Widrigkeiten«, die das Jahrhundert überschatteten, war die Wirkung des Schismas auf die Öffentlichkeit wohl am tiefgreifendsten. Wenn jeweils ein Papst die Anhänger des anderen exkommunizierte, wer konnte da noch der Erlösung sicher sein? Jeder Christ mußte die Verdammung durch den einen oder anderen Papst fürchten, und es gab keine Möglichkeit festzustellen, wer der echte Vertreter Gottes war. In umstrittenen Regionen gab es zwei Bischöfe, von denen jeder die Messe las und das Ritual des anderen zum Sakrileg erklärte. Derselbe Mönchsorden konnte in zwei verschiedenen Ländern verschiedene Päpste haben, in den Klöstern und Abteien tobte der Streit. Wenn wie zum Beispiel in Flandern politische und ökonomische Gründe dazu führten, daß eine Stadt sich mit den Franzosen und damit Klemens verband, verließen treue Urbanisten ihre Häuser, Geschäfte und Zünfte, um in eine Diözese des »wahren« Glaubens zu ziehen.

    Obwohl keine religiösen Streitigkeiten das Schisma hervorgerufen hatten, nahmen die Auseinandersetzungen schnell die Züge des Hasses an, die spätere Religionskriege charakterisierten. Für Honoré Bonet in Frankreich war Urban der fallende Stern, dem der Schlüssel zu dem »bodenlosen Abgrund« in den Visionen der Apokalypse des heiligen Johannes verliehen war. Der »Rauch eines großen Schmelzofens«, der aus der Grube stieg und die Sonne verdunkelte, war das Schisma, das seinen Schatten auf das Papsttum warf. Die »Heuschrecken und Skorpione« waren die »verräterischen Römer«, die das Konklave terrorisiert und die falsche Wahl erzwungen hatten. [Ref 262]
    Da die päpstlichen Einkünfte jeweils halbiert waren, hatte das Schisma katastrophale finanzielle Auswirkungen. Um jeden der beiden Päpste vor dem Bankrott zu retten, wurde die Simonie verstärkt, wurden Benefizien und Vergünstigungen noch schamloser verkauft als vorher, die Preise für geistliche Handlungen aller Art stiegen ebenso wie die Steuern für jedes Dokument, das die Kurien ausstellten. Der Ablaßverkauf, Keim der Reformation, wurde zu einer finanziellen Notwendigkeit. Statt der versprochenen Reformen vermehrten sich die Mißbräuche, die den Glauben weiter untergruben. »Überall wurde der Dienst Gottes vernachlässigt, die Frömmigkeit der Gläubigen sank, das Reich wurde allen Geldes beraubt, und die Geistlichen wanderten umher, überwältigt vom Elend.«
    Die Legaten der Päpste bemühten sich nicht länger um Frieden zwischen Frankreich und England, sondern traten offen für die eine oder andere Seite ein, da jeder der Kirchenfürsten militärische Unterstützung suchte, um den Rivalen zu vernichten. Ihre gegenseitigen Beschimpfungen und ihr unerbaulicher Kampf um den Körper der Kirche war ein für das Christentum entwürdigendes Schauspiel. Die Kirche wurde hierhin und dorthin gezerrt, trauerte der Mönch von St. Denis, »wie eine Hure auf einer Orgie«. Sie wurde

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