Der ferne Spiegel
heulte das Volk: »Romano lo volemo! (Wir wollen einen Römer!)« Die gespenstische Vision des Todes von Cola di Rienzi und Jakob van Artevelde, beide vom Mob gelyncht, muß den Kardinälen vor Augen gestanden haben.
In Todesangst ersannen sie eine List, kleideten den zitternden alten Kardinal Tebaldeschi unter seinen lauten Protesten in die Mitra und den Vespermantel und stellten ihn auf dem Thron zur Schau – lange genug, um seinen Kollegen die Flucht aus dem Vatikan in befestigte Burgen außerhalb der Stadt zu erlauben. Während die Glocken von St. Peter durch das Getümmel und die Zusammenstöße erklangen, verbreitete sich die Nachricht vom Täuschungsmanöver wie ein Lauffeuer in der Stadt. In neuen Sprechchören rief das Volk »Tod den Kardinälen!«, Schwerter wurden gezogen, und Banden von Betrunkenen brachen in die Keller des Vatikans ein.
Am nächsten Tag, dem 9. April, verkündeten die Kardinäle die Wahl das Erzbischofs von Bari zum Papst Urban VI. und begleiteten ihn unter schwerer Bewachung durch die »wütenden Gesichter« der Menge hindurch auf dem traditionellen Ritt in den Lateranpalast. Die Nachricht von der Wahl und der Inthronisation wurde den sechs Kardinälen, die noch in Avignon verblieben waren, übermittelt – ohne irgendeinen Hinweis auf Umstände, die diese Wahl hätten irregulär erscheinen lassen. Im Gegenteil, in den ersten Wochen nach der Wahl nahmen die Kardinäle Urbans Pontifikat als gegeben hin und überschütteten ihn mit den üblichen Petitionen mit der Bitte um Benefizien und Beförderung ihrer Verwandten.
Die päpstliche Macht, die ihn über die hochgeborenen Kardinäle setzte, stieg Urban VI. sofort zu Kopfe. Aus einem demütigen, unauffälligen Geistlichen, der nicht im geringsten mit dieser Wahl gerechnet hatte, wurde über Nacht eine unversöhnliche Geißel der Simonie, weniger aus religiösem Eifer denn aus schlichtem Haß und Eifersucht auf Privilegien jeder Art. Er schalt die Kardinäle öffentlich wegen ihrer häufigen Abwesenheit, ihres Luxuslebens,
ihrer Ausschweifungen und verbot ihnen, mehrfache Benefizien zu halten oder zu verkaufen, untersagte ihnen, Pensionen, Geldgeschenke und andere Gunsterweise aus weltlichen Quellen anzunehmen, wies den päpstlichen Schatzmeister an, ihnen nicht weiterhin die Hälfte der Einkünfte ihrer Benefizien auszuzahlen, sondern diese Gelder für die Instandsetzung der Kirchen von Rom zu benutzen. Schlimmer noch, er befahl den Kirchenfürsten, ihre Mahlzeiten auf einen Gang zu beschränken.
Er beschimpfte sie ohne Takt und Würde, sein Gesicht rot und seine Stimme heiser vor Wut. Er unterbrach sie mit groben Beleidigungen und Ausrufen wie »Müll!« und »Haltet den Mund!«. Er nannte Kardinal Orsini einen sotus (Schwachsinnigen) und drohte, den Kardinal von Limoges zu schlagen, wurde aber im letzten Augenblick von Robert von Genf unter dem Ausruf »Heiliger Vater, Heiliger Vater, was tut Ihr?« zurückgerissen. Er klagte den Kardinal von Amiens an, bei den Friedensverhandlungen zwischen England und Frankreich Geld von beiden Seiten angenommen und den Konflikt verlängert zu haben, um seine Börse zu füllen, worauf dieser Kardinal sich erhob und mit »unbeschreiblichem Hochmut Seine Heiligkeit einen Lügner nannte«. [Ref 259]
Von seinem Bedürfnis nach Selbstbestätigung fortgerissen, mischte sich Urban in die weltlichen Affären von Neapel ein, verkündete, das Königreich sei schlecht regiert, weil es von einer Frau, der Königin Johanna, beherrscht wurde, und drohte, sie in ein Nonnenkloster zu sperren, weil sie für Neapel als einem Lehen des Papstes keinen Tribut zahlte. Dieser sinnlose Streit, den er mit giftiger Erbitterung verfolgte, wurde zur Ausgangsbasis seiner Feinde.
Die Gefühle der Männer, die Urban erhoben hatten, können wohl kaum angemessen beschrieben werden. Einige meinten, daß das Fieber der Macht den Papst furiosus et melancholicus gemacht habe – kurz: verrückt. Wutausbrüche und Beleidigungen hätten sie vielleicht hingenommen, aber nicht den Eingriff in ihre Einkünfte und Privilegien. Als Urban sich glatt weigerte, nach Avignon zurückzukehren, war die Krise da. Die Kardinäle einigten sich auf die fatale Politik einer Absetzung des Papstes. Da es kein Mittel gab, einen Papst wegen mangelnder Eignung seines Amtes zu entheben,
faßten sie den Plan, die Wahl als ungültig zu erklären, da sie unter dem Zwang drohender Volksgewalt gestanden habe. Ohne Frage war Urban im Zeichen des Terrors gewählt
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