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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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nicht zu beschwichtigen war, als Rousse gegen das Versprechen, jeden Gedanken an ein Konzil aufzugeben, wieder freigelassen wurde.
    Erschreckt und tief betroffen, flohen prominente Doktoren der Theologie nach Rom, um sich Urban anzuschließen. Studenten und Fakultätsmitglieder aus urbanistischen Ländern, die nicht an
der klementistisch beherrschten Universität bleiben wollten, wechselten in andere Universitäten in Italien, im Kaiserreich oder nach Oxford über. »Die Sonne der Wissenschaft«, sagte ein scheidender Doktor, »geht unter.« Tatsächlich begann zu dieser Zeit der Verfall der Universität von Paris.
    In England brachte das Schisma Wyclif an den Wendepunkt, der zum Protestantismus führte. Zuerst begrüßte er Urban als Reformer der Kirche, aber als die finanziellen Mißgriffe beider Päpste immer eklatanter wurden, betrachtete er schließlich beide als Antichristen und das Schisma als das natürliche Ende eines korrumpierten Papsttums. Seit dem Augenblick, glaubte er, als die Kirche zum erstenmal die Vergebung der Sünden gegen Bezahlung anbot, war nichts als Böses die Folge gewesen. Da er in der Situation des Schismas mehr denn je an einer Reform verzweifelte, kam er 1379 zu einer radikalen Lösung: Die Kirche war unfähig, sich selbst zu reformieren, daher mußte sie unter eine weltliche Aufsicht gestellt werden. Er sah jetzt den König als Gottes Statthalter auf Erden, durch den die Bischöfe ihre Macht empfingen und durch den der Staat als Vormund der Kirche die Reform erzwingen konnte. Wyclif hielt sich nicht mit den Mißständen auf, sondern griff die ganze Theorie an, er schlug die Beseitigung des gesamten geistlichen Überbaus – Papsttum, Hierarchie, Orden – vor. Jetzt, nachdem er die göttliche Autorität der Kirche geleugnet hatte, wandte er sich auch gegen den Kern ihrer Lehre – die Kraft der Sakramente, besonders des Abendmahls. [Ref 264]
    Seine ketzerische Lehre erreichte ihren Höhepunkt in der Übertragung der erlösenden Kraft von der Kirche auf das Individuum: »Denn jeder Mensch, der verdammt sein soll, soll durch seine eigene Schuld verdammt sein, und jeder Mensch, der gerettet sein soll, soll durch sein eigenes Verdienst gerettet sein.« Unerkannt zu jener Zeit, war dies der Beginn der modernen Welt.
    Als er die Enteignung der Kirche gepredigt hatte, war Wyclif von mächtigen Freunden gedeckt worden, aber als er die Hierarchie selbst und das Priestertum angriff, zogen sich seine Beschützer, die den Vorwurf der Ketzerei fürchteten, zurück. 1381 erklärte ein Konzil von zwölf Doktoren der Universität Oxford acht seiner Thesen für unorthodox und vierzehn für ketzerisch und verbot
ihm Vorlesungen und Predigten. Obwohl Wyclif selbst damit zum Schweigen verurteilt war, verbreitete sich sein Denken mit dem Erscheinen der Bibel auf englisch. Die gesamte Heilige Schrift wurde von Wyclif und seinen Jüngern aus dem Lateinischen übersetzt – es war der große und gefährliche Versuch, den Menschen einen direkten Weg zu Gott zu öffnen, ohne den Umweg über den Priester. In der bevorstehenden Zeit der grimmigen Reaktion auf den Bauernaufstand, als die Lollharden, zu denen Wyclifs Jünger zählten, verfolgt wurden und der bloße Besitz einer Bibel in englischer Sprache einen Mann der Ketzerei überführen konnte, war die Herstellung und vielfältige Abschrift des Bibelmanuskripts eine riskante und mutige Arbeit. Nach den 175 Exemplaren, die überlebt haben, und der Zahl jener, die während der Verfolgungen vernichtet worden sein müssen, und jener, die im Laufe der Jahrhunderte verschollen sind, zu urteilen, müssen damals viele hundert Abschriften mühselig und heimlich von Hand hergestellt worden sein. Wyclif starb 1384, und als die Verfolgung schärfer wurde, verwandelte sich die Protestbewegung in eine unterschwellige Haltung. Als Jan Hus 1415 vom Konstanzer Konzil verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, ließ man auch Wyclifs Gebeine ausgraben und verbrennen. Die Kirche besaß, wenn auch geschwächt durch das Schisma, immer noch die Macht. Der Verfall alter und berühmter Gebäude geht langsam und kaum sichtbar vor sich, die Fassade hält am längsten.
     
    In einem Europa, das zwischen den zwei Päpsten zerrissen war, und angesichts einer Kirche, die durch den Kampf zweier Rivalen um weltliche Unterstützung politisiert war, wurde es mit jedem Jahr schwerer, das Schisma zu heilen. Alle nachdenklichen Menschen erkannten, wie sehr dieser Zustand die

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