Der ferne Spiegel
keineswegs an die Seite des Papstes, und diese Tatsache allein war ein Maß der Veränderung. Der Wind war umgeschlagen, und die Weltherrschaft der Kirche, der Traum des Mittelalters, war längst überlebt, als Bonifatius sie einklagte. Eine indirekte Folge des »Verbrechens von Anagni« war die Übersiedlung des Papsttums nach Avignon, und in dieser »Babylonischen Gefangenschaft« begann der moralische Verfall.
Die Verlegung der Papstresidenz wurde durchgeführt, als unter Philipp dem Schönen ein französischer Kardinal zum Papst Klemens V. gewählt wurde. Er zog nicht nach Rom, um sein Amt anzutreten, weil er befürchtete, daß die Italiener mit ihm ähnlich verfahren würden wie die Franzosen mit Bonifatius VIII., aber die Italiener sagten, er bliebe, weil er eine französische Konkubine habe, die schöne Herzogin von Périgord, Tochter des Grafen von Foix. 1309 ließ er sich in Avignon an der Rhonemündung nieder. Das lag zwar im französischen Einflußbereich, gehörte offiziell aber nicht zu Frankreich, da die Provence ein Lehen des Königreichs von Neapel und Sizilien war.
In den nächsten Jahren wurde Avignon unter sechs französischen Päpsten praktisch ein weltlicher Staat, der aufwendigen
Pomp trieb, große kulturelle Anziehungskraft ausübte und einer uneingeschränkten Simonie – dem Ämterkauf – huldigte. Geschwächt durch seinen Auszug aus Rom, versuchte das Papsttum, in weltlichen Dingen Ansehen und Macht zu erringen. Es konzentrierte sich auf jede Möglichkeit, die ertragreich zu sein versprach. Neben dem regulären Einkommen aus Zinsen und Pachtgeldern bestritt der Papst seine Ausgaben durch den Verkauf von allem und jedem, was die Kirche zu bieten hatte. Jedes Amt, jede Ernennung, jede Absprache über Vorrechte, jedes Ausnahmerecht, jede Nachfolgeregelung oder Garantie, jede Gnade, jede Lossprechung und Absolution, jeder Kardinalshut und jede Reliquie wurden verkauft. Zusätzlich nahm der Heilige Stuhl einen Teil von allen freiwilligen Geschenken, Vermächtnissen und Meßopfern, die auf dem Altar dargebracht wurden. Der Papst erhielt den Peterspfennig von England und anderen Königreichen. In Festjahren wurden Sonderabsolutionen erteilt und verkauft, und weiterhin wurden Steuern für Kreuzzüge erhoben, die zwar ausgerufen wurden, aber kaum je auch wirklich stattfanden. Die große Aufbruchstimmung war vergessen, und Begeisterung für den Heiligen Krieg drückte sich nur noch in Lippenbekenntnissen aus.
Kirchliche Pfründen in Gestalt von siebenhundert bischöflichen Diözesen und Hunderttausende niedriger Ämter wurden zu einer schier unerschöpflichen Einkommensquelle des Heiligen Stuhls. Mehr und mehr unterwarfen die Päpste die Vergabe dieser Ämter ihrer Kontrolle und unterliefen damit das Prinzip der Wahl. Da die vom Papst Ernannten der Diözese oftmals völlig fremd waren, kam es zu einer breiten Ablehnung dieser Praxis innerhalb der Kirche selbst. Wenn dennoch einmal eine Bischofswahl abgehalten wurde, beanspruchte der Papst eine Gebühr für seine Bestätigung. Um eine zur Verfügung stehende Pfründe zu erlangen, bestach ein Abt die Kurie und bezahlte ein Drittel von seinem ersten Jahreseinkommen als Gebühr für seine Ernennung. Er wußte, daß sein gesamter persönlicher Besitz nach seinem Tod an den Papst fiel und alle noch ausstehenden Schulden von seinem Nachfolger bezahlt werden mußten.
Exkommunikation und Verdammung waren die härtesten Maßnahmen, über die die Kirche verfügte. Sie waren als Strafe für Ketzerei
und schreckliche Verbrechen vorgesehen, dienten aber nun, »da diese Strafen den Menschen von der Gemeinschaft der Gläubigen trennten und dem Satan überantworteten«, dazu, säumige Zahler auszupressen. In einem Fall wurde einem Bischof ein christliches Begräbnis verweigert, bis seine Erben sich bereit erklärten, für seine Schulden aufzukommen. Das war eine Beleidigung der gesamten Gemeinde, die mit ansehen mußte, wie ihr Bischof ohne Begräbnis und ohne Hoffnung auf Erlösung dalag. Der Mißbrauch geistlicher Macht für solche Zwecke brachte aber die Exkommunikation bald in Mißkredit und setzte das Ansehen der kirchlichen Führer herab. Priester, die nicht lesen konnten oder sich wegen mangelnder Ausbildung durch die Liturgie stotterten, waren keine Seltenheit. Es ist überliefert, daß ein Bischof von Durham, der Lateinisch weder verstehen noch aussprechen konnte, 1318 während seiner eigenen Bischofsweihe über das Wort »Metropolitanus« stolperte und
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