Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
Vom Netzwerk:
folgend, sollten sie durch die Welt ziehen, um Gutes zu tun, barfuß sollten sie die Armen und Ausgestoßenen aufsuchen, um den Geringsten die Liebe Christi zu bringen, sollten um ihren Unterhalt bitten, aber niemals Geld verlangen. In paradoxer Weise zog gerade der Orden, den Franziskus auf die Ablehnung des Besitzes gegründet hatte, einen Überfluß von Gaben und Geschenken der Reichen auf sich, weil seine Reinheit eine besonders wirkungsvolle Fürbitte im Himmel zu sichern schien. Angesichts des Todes hüllten sich Ritter und Edeldamen in die Tracht der Franziskaner, weil sie glaubten, daß sie nicht in die Hölle müßten, wenn sie in ihr stürben und begraben würden. [Ref 29]
    Der Franziskanerorden erwarb Ländereien und Reichtümer, erbaute Kirchen und Klöster und entwickelte seine eigene Hierarchie – alles im Gegensatz zu den Absichten seines Gründers. Dabei hatte der heilige Franziskus diese Entwicklung vorausgesehen. Als ihn ein Novize um ein Psalmbuch bat, hatte er geantwortet: »Wenn du ein Psalmbuch hast, wirst du ein Brevier haben wollen, und wenn du ein Brevier hast, wirst du wie ein großer Prälat auf einem Thron sitzen wollen, und du wirst zu deinem Bruder sagen: ›Bruder, bring mir mein Brevier.‹«
    Einige Mönchsorden ließen ein Taschengeld zu und verliehen Geld gegen Zinsen. In einigen Klöstern waren vier Liter Bier täglich erlaubt, die Mönche aßen Fleisch, trugen Pelze und juwelengeschmückte Gewänder. Sie hielten sich Diener, die in reichen Klöstern zahlreicher als die Mönche selbst waren. Da sie sich der Gunst der Reichen sicher waren, predigten die Franziskaner für sie und dienten ihnen als Ratgeber und Kapläne. Einige wanderten immer
noch barfuß unter den Armen und wurden von ihnen verehrt, aber die meisten trugen gute Lederstiefel und wurden nicht geliebt.
    Sie beschwindelten die Leute, wie es die Ablaßhändler taten, verkauften Reliquien, die es nur in ihrer Phantasie gab. Cipolla, ein Bettelmönch aus den Geschichten Boccaccios, verkaufte eine der Federn des Erzengels Gabriel, die jener, wie er sagte, verloren hatte, als er im Zimmer der Heiligen Jungfrau die Frohe Botschaft verkündet hatte. Das war eine Satire, die der Wirklichkeit der Bettelmönche, die Stücke des Dornbusches verkauften, aus dem Gott zu Moses sprach, kaum etwa voraushatte. Manche verkauften Auszüge aus einem »Heiligen Buch der Tugenden«, das angeblich im Himmel vom Orden des heiligen Franziskus geführt wurde. Wyclif antwortete, als er gefragt wurde, wofür diese Pergamente gut seien: »Man kann Senftöpfe damit verschließen.« Die Bettelmönche blieben ein Element des täglichen Lebens, verspottet und verehrt und gefürchtet, weil sie vielleicht trotz allem den Schlüssel zur Erlösung haben könnten. [Ref 30]
     
    Die Satiren und Klagen haben die Zeiten überdauert, weil sie niedergeschrieben worden sind. Sie hinterlassen das Bild von einer Kirche, die durch Käuflichkeit und Heuchelei so zerrüttet war, daß sie vor der völligen Auflösung zu stehen schien. Aber eine Institution, die die gesamte Kultur beherrschte und so tief in der Gesellschaft verwurzelt war, löst sich nicht einfach auf. Das Christentum war der Nährboden des mittelalterlichen Lebens: Selbst das Kochbuch riet, ein Ei so lange zu kochen, »wie man braucht, um ein Miserere aufzusagen«. Das Christentum regelte Geburt, Heirat und Tod, das Geschlechtsleben, das Essen, die Gesetze und die Medizin, es war das Thema der Philosophie und der gesamten Gelehrsamkeit. Die Zugehörigkeit zur Kirche war keine Frage der freien Wahl; sie war Zwang und ohne Alternative. Das gab ihr eine Macht über die Menschen, die nicht einfach abzuwerfen war.
    Als Teil des täglichen Lebens war die Kirche dem Gespött preisgegeben, aber im Grunde unverletzbar. Beim alljährlichen Fest der Narren, das um die Weihnachtszeit stattfand, gab es keinen Ritus und kein Gebot, das nicht Gegenstand von Witzen geworden wäre, egal, wie heilig es war. Ein Dominus Festi oder König der
Narren wurde von der niederen Geistlichkeit gewählt und gekrönt, von den Pfarrern, den Subdiakonen, den Vikaren und Kirchenmeistern. Alle waren sie ungebildet, unterbezahlt und undiszipliniert. An ihrem Festtag aber kehrten sie das Oberste zuunterst. Sie weihten ihren König zum Papst, Bischof oder Abt der Narren. Sie schoren ihm unter obszönen Reden den Kopf und machten anzügliche Gesten. Sie kleideten ihn mit Gewändern, deren Innenseiten nach außen gekehrt waren, spielten

Weitere Kostenlose Bücher